Wach auf, wenn du dich traust
Zelt, dachte Jenny in einem Moment von Erleichterung, sie können mich noch hören. Sie schaffte es, Silvio ein wenig von ihrem Brustkorb zu schieben.
»Debbie!«, schrie sie, so laut sie konnte, doch der Schrei wurde von Silvios Fäusten erstickt. Warm und metallisch schmeckte Jenny Blut in ihrem Mund. Dann drang der Schmerz langsam in ihr Bewusstsein. Endlich ließ Silvio sich neben ihr auf den Boden fallen, dann fühlte sie, wie jemand sie von hinten packte und versuchte, sie weiterzuzerren. Sie drehte den Kopf und erkannte aus den Augenwinkeln Max.
Langsam bekam sie wieder Luft.
»Deborah!«, schrie sie noch einmal, lauter. Max’ Hand schoss herum und presste ihren Mund fest zusammen.
Jemand kam aus dem Zelt und schnell auf sie zu.
»Bleib, wo du bist«, sagte Silvio, »geh wieder rein!« Er ging drohend auf Debbie zu.
»Silvio«, sagte Debbie. Sie klang wie ein kleines Mädchen. »Was…?«
»Geh rein!«, herrschte er sie an.
Jenny spürte, wie ihr Hals sich zusammenschnürte. Sie brachte hinter Max’ Hand keinen Ton hervor und versuchte, ihn zu beißen. Schließlich drückte er mit beiden Händen ihre Kiefer zusammen.
»Hau ab, Debbie!«, schrie Silvio nochmals.
»Silvio…« Debbie versuchte, ihn zu berühren, doch er schlug nach ihr.
»Wenn du jetzt nicht sofort abhaust, scheiß ich auf dich!«
Mit aufgerissenen Augen ging Debbie ein paar Schritte rückwärts, dann drehte sie sich um und rannte ins Zelt.
Einen Augenblick später erschien der Lichtstrahl einer Taschenlampe aus dem Zelteingang.
»Alles in Ordnung, Luzia«, hörte sie Pauline sagen, »geh wieder rein. Wir unterhalten uns nur.«
Nein, flehte Jenny, geh nicht rein. Sie versuchte, so laut wie möglich zu schreien, doch viel mehr als ein dumpfes Fiepen brachte sie nicht zustande. Sie zappelte so heftig wie möglich und versuchte, in die Nähe des Lichtstrahls zu gelangen. Wenn Luzia sie sehen würde, dann müsste die doch erkennen, was hier abging. Jenny schaffte es, einen Arm freizubekommen, und fuchtelte wild in der Luft herum, bevor ihn irgendjemand wieder zu fassen bekam.
»Sicher?«, fragte Luzia und schien einen Moment lang unschlüssig, was sie tun sollte.
»Ja, klar«, sagte Pauline ungeduldig, die nun direkt zwischen Luzia und dem Lichtstrahl stand. »Geh wieder rein, es ist doch kalt hier draußen.«
Das Licht zitterte noch einmal über den Platz, dann verschwand es im Inneren des Zeltes. Jenny erschlaffte.
Sie war allein.
»Wir müssen vom Zelt weg«, flüsterte Pauline, »sonst kommt gleich der Nächste.«
Beim Zelt bleiben, dachte Jenny instinktiv, ich muss beim Zelt bleiben und mich noch mal bemerkbar machen. Sobald die Taschenlampe aus war, war es stockdunkel geworden. Sie versuchte wieder, ihren Kopf zu bewegen, um sich aus Max’ Griff zu lösen.
»Iih«, sagte Max, »die sabbert mich an.«
»Wir müssen sie knebeln«, schlug Silvio vor, »die hält sonst nie das Maul.«
»Bloß womit?«, hörte Jenny eine andere Stimme, von jemandem, der bisher überhaupt noch nichts gesagt hatte. Tino, dachte sie, der kleine Scheißer will auch bei den coolen Jungs mitmachen.
»Zieh deine Socken aus«, befahl Pauline. Tino lachte ungläubig auf.
»Jetzt mach schon«, zischte Pauline ungnädig. Tino verstummte, Jenny hörte, wie er an seinen Schuhen herumnestelte. Offensichtlich schien er Paulines Anweisung zu befolgen.
»Geht’s auch ein bisschen schneller?«, fuhr ihn Max an. »Die speichelt mich total ein, das ist echt eklig.«
Tino kicherte. Er war ganz klar ebenfalls betrunken. Er hätte lieber nichts trinken sollen, dachte Jenny. Das tut ihm nicht gut.
Vor ihrem inneren Auge tauchte plötzlich Markus’ spöttisches Grinsen auf. Immer edelmütig im Einsatz für andere.
Vielleicht haben sie recht, dachte sie. Vielleicht war ich blöd gewesen, albern und besserwisserisch. Wegen mir sind alle schikaniert worden. Ich hätte mich um meinen eigenen Kram kümmern sollen. Ich hätte das Maul halten sollen. Ich bin eine Idiotin, die was Besseres sein wollte. Die immer nur die Probleme sehen wollte.
Deshalb wollte auch Tizian nichts von mir wissen. Die Rothaarige, dachte Jenny, die hätte sich bestimmt nicht so aufgeführt.
Und dieser Gedanke war es schließlich, der sie widerstandslos machte, als sie ihr die feuchten und stinkenden Socken in den Mund stopften. Sie würgte. Ihre Nasenflügel blähten sich auf beim Versuch, genügend Luft zu bekommen, während sie sie in den Wald trugen, weg von den Zelten.
Im Wald
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