Wach nicht auf!: Roman (German Edition)
ersten Stock des Hauptgebäudes, unmittelbar über dem Laden. Von Mr. Dunlap, der noch in Edwards Kleinkindzeit gestorben war, hörte man mittlerweile kaum noch etwas. Den Gerüchten zufolge empfand Esther es so, dass er durch die Zeugung eines Sohns seinen Zweck erfüllt hatte, und nachdem er einmal weg war, war es nicht nötig, je wieder an ihn zu denken.
Anne stieg aus dem Wagen, überquerte den Parkplatz und ging dabei an den beiden Zapfsäulen vorbei. Sie stieg die Stufen der breiten Veranda hinauf, die das Gebäude umlief, und blieb am Eingang stehen, um ein paar Feriengäste vorbeizulassen, die gerade aus dem Laden kamen. Sie grüßte sie mit einem Lächeln und einem Nicken. Als sie drinnen war, erblickte sie sofort Esther auf ihrem Thron hinter der Ladentheke.
Wie eine Königin, die ihr Königreich überwacht, hielt Esther ein scharfes Auge auf alle Kunden, die im Laden herumgingen. Gott bewahre, dass irgendein Langfinger ihr etwas klauen sollte. Anne sah, wie Esther sich auf ihrem Hocker vorbeugte und wie ihre Züge sich anspannten, als sie die Baxter-Zwillinge erblickte, zwei flachsköpfige Achtjährige, die die Schokoriegel in Augenschein nahmen. Esthers starrer Blick blieb auf die beiden geheftet, bis sie weggin gen und sich zu ihren Eltern im Nachbargang gesellten. Sie verschränkte die Arme vor der ausladenden Brust und rückte sich mit ihrem untersetzten Körper auf dem Hocker zurecht, bevor sie sich auf den nächsten potenziellen Dieb konzentrierte.
Auf dem Weg zur Brotauslage bemerkte Anne Kimberly Brighton, Teddys Mutter, und deren Schwiegermutter Irene. Da sie keine Lust auf einen Schwatz hatte, schaute sie schnell weg, doch Kimberlys Kleidung war ihr nicht entgangen. Es war ein Samstagvormittag am See, aber Kimberly sah aus, als hielte sie sich in einem Kurort auf. Ihre Erscheinung war gepflegt, und Anne wusste, dass der Preis ihrer schlichten, maßgeschneiderten Bluse wahrscheinlich ihr eigenes monatliches Supermarktbudget überstieg. Fügte man ihre Caprihose, die goldenen Armbänder und ihre ledernen Flechtsandalen hinzu, hätte Anne mit dem Geld, das diese Frau am Leib trug, ihren Autokredit abbezahlen können. Sie blickte auf ihre eigenen Kleider hinunter – T-Shirt, Shorts und Flip-Flops, die sie bei Walmart im Sonderangebot erstanden hatte. Nein, an ihrer Erscheinung war gar nichts gepflegt.
Mit einem schiefen Grinsen griff sie sich einen Laib Brot und schlängelte sich an den anderen Kunden vorbei zur Theke.
»Ist das alles?«, fragte Esther, als sie das Brot entgegen nahm. »Darf es vielleicht sonst noch etwas sein?«
Höchst unwahrscheinlich , dachte Anne sarkastisch. Als ob sie noch mehr von ihrem sauer verdienten Geld für Esthers überteuerte Waren ausgeben würde.
Anne setzte ein breites Lächeln auf und überging Esthers offensichtliche Enttäuschung. »Nein, das ist alles.«
»Na schön.« Hinter dicken Brillengläsern hervor fiel Esthers Blick auf Annes Handtasche. »Sie wollen bestimmt Ihre Schulden begleichen.«
»Was für Schulden denn?«
»Calebs.« Esther griff unter den Tresen und holte eine Schachtel für Kochrezepte hervor, in der Verkaufsbelege lagen. Sie ging sie kurz durch und zog einen heraus. »Hier ist er. Für vierzig Liter Benzin, eine Schachtel Schoko-Ho-Hos und eine Dose Mountain Dew.«
»Darf ich das bitte sehen?«
Widerstrebend reichte Esther ihr den gelben Verkaufsbeleg.
Mutlos überflog Anne die krakelige Schrift. Vierzig Dollar in einem Wochenbudget, das schon jetzt überdehnt war. Sie verharrte beim letzten Punkt in der Liste. »Wofür sind denn diese fünf zusätzlichen Dollar?«
»Service-Gebühr.«
»Sie schlagen eine …« Anne brach ab. Es war sinnlos, sich mit Esther über die Rechnung zu streiten, aber bald würde sie zu Hause sein … Caleb würde etwas zu hören bekommen. Es ging nicht, dass er ohne ihre Erlaubnis anschreiben ließ.
Anne nahm das Geld aus ihrer Brieftasche und reichte es Esther. »Ich rede mit Caleb, aber von jetzt an möchte ich nicht mehr, dass er Schulden bei Ihnen macht.«
»Das müssen Sie unter sich klären«, sagte Esther, tippte die Beträge rasch in die antike Registrierkasse ein und addierte sie mit einem Klingeln auf. »Wie ich höre, haben Sie eine neue Patientin.«
»Ja.«
»Sie arbeiten nicht mehr im Krankenhaus?«
Anne sog an ihrer Unterlippe und senkte den Blick auf die Ladentheke. Jeder am See hatte von den vorübergehenden Freistellungen im Krankenhaus gehört, und sie wusste, dass Esther da
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