Wach nicht auf!: Roman (German Edition)
befühlend, in sich hinein. »Jetzt mach mal Schluss mit dem Gehampel, und schaff deinen Arsch da rein. Ich habe eine Patientin, die sauer ist, dass ich da bin.« Sie holte tief Luft und straffte die Schultern. »Aber ich habe schon Schlimmeres erlebt.«
Mit festen Schritten überquerte Anne die Veranda und schloss die Haustür auf. Sie öffnete sie und spähte in den halbdunklen Raum. Die stille Atmosphäre hatte etwas Erstickendes. So geht das nicht , dachte sie. Rasch ging sie zur Verandatür, zog die Vorhänge zurück und riss einen Türflügel auf. Sofort flutete Sonnenlicht in das Häuschen und verjagte die Dunkelheit. Ein sanfter Wind wehte vom See herein und erfrischte die Luft.
Anne atmete tief ein und langsam wieder aus. »Schon besser.«
Sie ging in die Küche zurück und begann, das Frühstück vorzubereiten. Sie würde erst alles fertig machen, bevor sie Dornröschen weckte. Als hätten ihre Gedanken die junge Frau herbeigerufen, sah Anne beim Umdrehen, dass Sam in die Küche getappt kam.
Sam blinzelte wegen der Sonne und fuhr sich mit den Fingern durch das misshandelte Haar.
Sich nach ihr umblickend entschied Anne, dass das der schlimmste Haarschnitt war, den sie je gesehen hatte. Er sah aus wie mit dem Rasentrimmer gemacht. Vielleicht sollte sie Sam vorsichtig einen Ausflug zu Alice’s Beauty Barn in Pardo vorschlagen?
»Guten Morgen«, sagte Anne und setzte ein fröhliches Lächeln auf. »Was hätten Sie gerne zum Frühstück? Wie wäre es mit Eiern und Würstchen?«
Sam zog an ihren abstehenden Haarstacheln und blickte erst Anne an und dann auf die geöffnete Verandatür. »Nichts – einfach nur Kaffee«, murmelte sie.
Im Verlauf des Vorstellungsgesprächs hatte Lawrence Moore Anne Fotos von Sam gezeigt, aber wie sie ihre Patientin jetzt so ansah, war der Unterschied zwischen der Frau auf den Fotos und der Frau, die vor ihr stand und an ihren Haaren zog, schon sehr verblüffend. Auf den Fotos hatte sie gelächelt und selbstbewusst gewirkt, aber jetzt? Es war, als wäre von ihr fast nichts mehr übrig geblieben. Das hereinströmende Licht betonte ihre hohlen Wangen und ihr fast skelettartiges Aussehen. Und ihre verschatteten, gehetzten Augen zuckten verunsichert hier- und dorthin. Im Moment kam es Anne so vor, als hätte sie niemals jemanden gesehen, der weniger selbstbewusst war als Samantha Moore.
Als Sam Annes Blick bemerkte, nahm sie die Hand herunter und starrte ihre Betreuerin herausfordernd an. »Was starren Sie so?«
»Gar nicht«, gab Anne rasch zurück und holte Eier und Milch aus dem Kühlschrank. »Sie sehen so aus, als hätten Sie nicht gut geschlafen. Hatten Sie eine schlechte Nacht?«
Sam stieß ein raues Bellen aus. »Das könnte man wohl so sagen.« Sie blickte sich nach der Verandatür um. »Hier drinnen ist es zu hell. Und außerdem«, rief sie quer durch den Raum humpelnd über die Schulter zurück, »gehen Sie hier nie wieder weg, ohne alle Vorhänge und Jalousien zuzuziehen.« Bei der Tür angekommen, schloss sie diese und zog die Vorhänge zu, so dass es im Zimmer nun wieder dunkel war.
Anne stand sofort neben ihr. »Hier drinnen ist es wie in einem Grab«, erklärte sie und zog die Vorhänge wieder auf. »Mit ein bisschen Sonne werden Sie sich besser fühlen.«
Sam zog die Vorhänge zu. »Nein, werde ich nicht.«
Anne öffnete sie. »Doch, werden Sie.«
Sams Hand lag zitternd auf dem Vorhang, und sie machte die Augen schmal. »Ich mag es dunkel.«
»Ich nicht. Die Vorhänge bleiben offen«, entgegnete Anne, richtete sich zu ihren vollen eins achtzig auf und starrte auf Sam hinunter. Als sie in ihre gequälten Augen blickte, regte sich Mitgefühl in ihr, aber sie unterdrückte es. Sie durfte nicht zulassen, dass dieser Hänfling die Oberhand bekam.
Emotionen zuckten über Sams Gesicht – Trotz, Wut und schließlich Resignation. Ihre Schultern sackten nach unten, und sie drehte sich ungeschickt um. »Egal«, erwiderte sie mit einer Stimme, die vor Bitterkeit troff. »Ich geh wieder ins Bett.«
Anne hielt sie fest. »Nein, das tun Sie nicht. Sie essen jetzt Ihr Frühstück, nehmen Ihre Medikamente und beginnen mit Ihrer Therapie.«
»Wer hat denn Sie hier zum Chef gemacht, Schwester Nancy«, schoss Sam, die Arme eng um den Leib gelegt, zurück.
»Ihr Vater.«
»Ach ja, das stimmt.« Sam schlurfte zur Couch und ließ sich fallen. »Sie sind hier, um sich um seine verkrüppelte Tochter zu kümmern«, endete sie sarkastisch.
Anne stemmte die Hände in die
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