Wach nicht auf!: Roman (German Edition)
brauchte, würde sie in Minneapolis anrufen und sich zusätzliches Material schicken lassen. Es war aufregend gewesen, durch den Laden zu pilgern und ihre Auswahl zu treffen. Der in der Luft hängende Geruch von Terpentin und Ölfarbe hatte sie an glücklichere Zeiten erinnert, an zahlreiche Collegetage, die sie in ihre Kunst vertieft verbracht hatte. Damals war ihr die Welt voller Möglichkeiten erschienen. In jenen Tagen hatte sie von Ausstellungen geträumt, nicht davon, die Termine von Werbekampagnen einzuhalten. Sie hatte sich vorgestellt, sie würde irgendwann ihr eigenes, selbst entworfenes Atelier haben. Als sie jetzt darüber nachdachte, verharrten ihre Finger, und sie ballte sie zur Faust. Jene Träume waren im Angesicht der Realität und der Notwendigkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, zerplatzt. War es zu spät, sie wieder zum Leben zu erwecken? Es war so lange her, seit sie irgendetwas geschaffen hatte. Was, wenn sie jede einzelne Technik vergessen hatte, die sie einmal im College gelernt hatte? Was, wenn …«
Annes Stimme unterbrach ihre Gedanken. »Was ist los?«, fragte sie mit einem raschen Blick auf Sam. »Sie sehen besorgt aus. Sind Sie mit Ihren Einkäufen nicht zufrieden?«
Sam begann wieder mit den Fingern zu trommeln. »Das ist es nicht.« Sie blickte auf ihre rastlose Hand hinunter und schob sie rasch unters Bein. »Es ist einfach so, dass ich seit Jahren nicht mehr gemalt habe.« Sie wandte den Kopf zur Seite und sah auf die hohen Kiefern hinaus, die am Autofenster vorbeisausten. Dann kehrte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Anne zu. »Was, wenn ich es verloren habe?«, fragte sie schließlich mit verzagter Stimme.
»Verloren?«
»Ja.« Sam schüttelte den Kopf und versuchte, ihre Gedanken in Worte zu fassen. »Als ich klein war, musste meine Mutter mir nur eine Schachtel Buntstifte und ein Blatt Papier geben, wenn sie mich beschäftigen wollte. Ich habe Stunden damit zugebracht, alles zu malen, was mir in den Sinn kam, und als ich heranwuchs, habe ich diese Fähigkeit, etwas zu schaffen, für selbstverständlich gehalten.«
»Und jetzt machen Sie sich Sorgen, dass Ihr Talent verschwunden sein könnte? Ich bin keine Kunstexpertin, aber Fritz war von Ihren Arbeiten sehr beeindruckt.«
Sam wischte Annes Worte beiseite. »Diese beiden Gemälde habe ich unmittelbar nach dem College angefertigt, und seitdem habe ich nichts mehr gemalt.«
Anne runzelte die Stirn. »Mir scheint, Talent ist nichts, was durch mangelnden Gebrauch verloren geht. Anfangs werden Ihre Fähigkeiten vielleicht ein bisschen eingeros tet sein, aber ich glaube, dass man Talent hat – oder eben nicht.«
»Da ist ein bisschen mehr dran«, gab Sam mit unglücklicher Stimme zurück. »Nur durch Übung lernt man, Licht und Schatten gegeneinander abzusetzen, etwas zu betonen und …« Sie brach mit einem frustrierten Kopfschütteln ab. »Ein Künstler verwendet tausend Tricks, um seine Absicht zu verwirklichen.«
»Okay«, antwortete Anne vernünftig. »Dann werden Sie vielleicht mit Ihrem ersten Versuch nicht glücklich sein, aber mit der Zeit werden Sie sich bestimmt an diese Tricks erinnern.«
»Was, wenn es nicht mehr klappt?«
»Was meinen Sie damit?«
»Was, wenn ich mich nicht daran erinnern kann? Was, wenn der Schlag auf meinen Schädel diesen Teil meines Gehirns beschädigt hat?« Sams Stimme wurde vor Verzweiflung schrill. »Was, wenn mir mehr geraubt worden ist als nur die Kraft in meinem Bein?«
Anne hielt vor Sams Haus und stellte den Motor aus. »Es gibt nur eine einzige Art, das herauszufinden«, sagte sie, nahm eine der Tüten vom Rücksitz und legte sie Sam auf den Schoß. »Hier. Bringen wir doch alles nach drinnen, und während ich die Sachen wegräume, können Sie sich schon einmal auf die Couch setzen und eine Skizze machen.«
Die Fäuste noch immer geballt, heftete Sam den Blick auf die Tüte, die auf ihrem Schoß lag. Ein Skizzenblock. Auch wenn es vielleicht Spaß gemacht hatte, diese ganzen Materialien zu kaufen, jagten sie ihr jetzt, da sie sie wirklich verwenden sollte, Angst ein. Wenn sie ihrem Vater nicht die Zugeständnisse machte, die er von ihr verlangte, würde er sie letztlich nicht mehr in die Agentur zurückkehren lassen. Und mit Jackson war die Lage prekär. Nun blieb ihr nur noch ihre Kunst, die sie vor Jahren aufgegeben hatte, dachte sie, während sie auf den Skizzenblock auf ihrem Schoß starrte.
Plötzlich stupste Anne sie an und schreckte sie auf. »Ach, hören Sie schon
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