Wach nicht auf!: Roman (German Edition)
auf – diese Tüte ist doch keine Schlange! Seien Sie keine solche Memme!«
Sam riss die Augen auf. »Also bitte sehr«, rief sie aus. »Ich bin keine Memme.«
»Dann sehen Sie Ihrer Angst ins Auge.« Anne machte die Autotür auf und stieg aus. »Gehen Sie ins Haus, und machen Sie sich an die Arbeit.«
Ein paar Minuten später saß Sam, Roxy neben sich, mit angezogenen Beinen auf der Couch, während Anne, die Hände in die Hüften gestemmt, mitten im Zimmer stand.
»Wohin soll ich die Staffelei stellen?«, fragte sie.
Sam musterte den Raum und achtete dabei auf den Lichteinfall. »Ich denke, da drüben hin«, meinte sie mit ausgestreckter Hand. »Dort bei der Verandatür.«
»Na prima«, antwortete Anne und rieb sich die Hände.
Während Anne sich daranmachte, die Staffelei aufzubauen, klappte Sam den Skizzenblock auf, griff nach einem Stück Zeichenkohle und blickte auf das leere Blatt. Ihre über dem Skizzenblock schwebende Hand zitterte. Wo sollte sie anfangen? Lass deinen Gedanken freien Lauf , sagte sie sich. Sie holte tief Luft, zog rasch einen Strich und verrieb ihn mit dem Daumenballen. Nach einem Blick auf Anne, die inzwischen eifrig die Aufbauanleitung der Staffelei studierte, zog sie einen zweiten Strich, dann noch einen und noch einen. Ihre Schultern entspannten sich, und die Welt um sie her versank, während auf dem Papier allmählich ein Bild entstand. Sie hielt inne und rieb sich die Nase. Nein, zu hart – mehr Schatten. Sam verwischte den Umriss. Ein weiterer Strich mit der Zeichenkohle, und das Bild nahm mehr Gestalt an. Ein Lächeln spielte um Sams Mundwinkel. Nicht schlecht – der Fokus ist gut, aber das Ganze ist ein bisschen aus dem Gleichgewicht. Sie konzentrierte sich darauf, die linke Seite stärker zu betonen. Sie fügte gerade ein Detail hinzu, als ein Schatten auf den Skizzenblock fiel. Sie riss den Blick vom Papier los und sah zu Anne auf, die über ihr stand.
»Hier, trinken Sie ein bisschen Eistee«, sagte sie, ihr das Glas hinhaltend. »Sie sehen so aus, als könnten Sie den gebrauchen.«
Wie ein Taucher, der aus dem Meer aufsteigt, brauchte Sam einen Augenblick, um sich zu orientieren. Mit glasigem Blick schaute sie sich im Wohnzimmer um. In der Ecke stand eine Staffelei mit säuberlich auf der Ablage arrangierten Pinseln. Weitere Malmaterialien lagen in Griffweite auf den Wandborden daneben. Sie bemerkte, dass die Schatten auf dem Boden schon länger wurden. Wie spät war es eigentlich? Ihre Augen flackerten, als ihr Blick auf die Wanduhr fiel. Seit über einer Stunde war sie jetzt schon zugange. Sie legte die Kohle weg, klappte den Skizzenblock zu und bog und dehnte ihre Finger. Dann nahm sie das Glas von Anne entgegen.
»Danke«, sagte sie und leerte den Tee in einem einzigen langen Zug. Sie streckte die Beine aus und stöhnte leise, als das Blut in die verkrampften Muskeln zurückfloss.
Anne schüttelte den Kopf. »Sie dürfen nicht so lange in ein und derselben Position bleiben. Sie müssen sich hin und wieder recken.«
Sam stellte das Glas auf den Couchtisch, stand langsam auf und machte einen Buckel. »Sie haben ganz recht«, gab sie zurück, aber Anne hörte gar nicht hin. Sie blickte gebannt auf den Skizzenblock, der auf der Couch lag.
Sam lachte und hob ihn hoch. »Wollen Sie einen Blick darauf werfen?«
»Darf ich?«
Sam sog zögernd an ihrer Unterlippe. Sie war nicht vollkommen glücklich mit ihrer Arbeit, aber für einen ersten Versuch nach einer derart langen Pause war sie wohl annehmbar. Sie klappte den Block auf, reichte ihn Anne und wartete nervös auf ihre Reaktion.
»Das bin ja ich«, sagte Anne flüsternd.
Sam stieß den Atem aus, von dem sie gar nicht wusste, dass sie ihn angehalten hatte. »Ich bin froh, dass Sie das denken«, meinte sie leichthin.
Anne nahm die Augen von der Zeichnung und blickte Sam überrascht an. »Soll das ein Scherz sein? Das ist doch großartig.«
»Hier«, sagte Sam, nahm Anne den Skizzenblock weg und ergriff einen Zeichenstift. Mit schwungvoller Geste signierte sie das Bild, riss es vom Block ab und reichte es Anne.
»Ehrlich? Ich kann es behalten?«
»Aber sicher«, sagte Sam und wurde vor Freude ganz rot. »Es ist doch das Mindeste, was ich tun kann. Sie haben mir das schönste Kompliment gemacht, das ein Künstler bekommen kann. Ihnen gefällt …«
Sie wurde von Roxys lautem Bellen unterbrochen, mit dem die Hündin von der Couch schoss. Das Tier rannte zur Tür, stellte sich auf die Hinterbeine und spähte aus
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