Wachen! Wachen!
jäher Panik auf die Lippe, hastete zum Hinterausgang, floh über den Rasen, kehrte ins Haus zurück, stürmte die Treppe hoch und nahm dabei drei Stufen auf einmal.
»Ach, wie dumm von mir«, murmelte sie und dachte daran, daß sie die Lampe vergessen hatte. Es blieb ihr keine Zeit mehr, sie zu holen. Vielleicht verlor Mumm die Geduld und ging.
Tastsinn und Erinnerung halfen ihr dabei, sich in der Düsternis zurechtzufinden. Lady Käsedick griff nach der besten Perücke und rammte sie sich auf den Kopf. Irgendwo zwischen den Salben und für Sumpfdrachen bestimmten Heilmitteln auf der Frisierkommode befand sich etwas, das den rätselhaften Namen
Tau der Nacht
trug. Es handelte sich um das Geschenk eines gedankenlosen Neffen. Sie versuchte es mit mehreren Fläschchen, bevor sie, nach dem Geruch zu urteilen, das richtige fand. Selbst einer Nase, die ihre Wahrnehmungskapazität angesichts der überwältigen Gerüche von Drachen schon vor langer Zeit drastisch reduziert hatte, erschien der Duft enorm wirkungsvoll. Nun, offenbar mochten Männer so etwas. So hieß es jedenfalls.
Eigentlich Blödsinn,
dachte Lady Käsedick und hielt trotzdem an der Entschlossenheit fest, derartige Hilfsmittel zu benutzen. Sie rückte den obersten Saum ihres plötzlich viel zu keuschen Nachthemds in eine Position, die zeigen, jedoch nicht enthüllen sollte. Im Anschluß daran eilte sie wieder nach unten.
Vor der Tür verharrte sie kurz, holte mehrmals tief Luft, drehte den Knauf, öffnete und bedauerte gleichzeitig, daß sie nicht die Gummistiefel ausgezogen hatte…
»Nun, Hauptmann«, sagte sie gewinnend, »das ist wirklich
wer, zum Teufel, bist du?
«
Der Anführer der Palastwache trat einige Schritte zurück, und als Sohn eines Bauern verzichtete er nicht darauf, sich mit einigen heimlichen Zeichen vor bösen Geistern zu schützen. Die erhoffte Wirkung blieb aus. Als er die Augen wieder öffnete, stand die Gestalt noch immer in der Tür, zitterte vor Zorn und stank nach etwas Fauligem. Auf dem Kopf erstreckte sich eine schiefe Lockenmasse, und der enorme Busen hob und senkte sich auf eine Weise, die den Gaumen des Offiziers trocken werden ließ…
Er hatte von solchen Erscheinungen gehört. Man nannte sie Harpyien. Was war nur aus Lady Käsedick geworden?
Die Gummistiefel verwirrten ihn allerdings. In den Legenden über Harpyien blieben Gummistiefel unerwähnt.
»Heraus damit, Bursche!« donnerte Lady Käsedick und zog den Ausschnitt des Nachthemds zusammen. »Steh nicht einfach so herum und gaff mich an. Was willst du?«
»Lady Sybil Käsedick?« fragte der Wächter. Er sprach nicht im höflichen Tonfall eines Mannes, der eine Bestätigung erwartet. Seine Stimme klang vielmehr so, als könne er sich kaum vorstellen, daß die Antwort ›ja‹ lautete.
»Benutz deine Augen, junger Mann. Für wen hältst du mich?«
Der Wächter riß sich zusammen.
»Nun, ich habe eine Vorladung für Sybil Käsedick«, sagte er unsicher.
»Was soll das heißen, eine Vorladung?« erwiderte Ihre Ladyschaft eisig.
»Äh, du sollst den Palast aufsuchen.«
»Was, so früh am Morgen? Es hat sicher Zeit bis später.« Lady Käsedick wollte die Tür schließen, aber es gelang ihr nicht. Ein im letzten Augenblick in den Spalt gezwängtes Schwert hinderte sie daran.
»Wenn du
nicht
mitkommst«, drohte der Wächter, »bin ich befugt, gewisse Maßnahmen zu ergreifen.«
Die Tür schwang wieder auf, und das Gesicht Ihrer Ladyschaft kam bis auf wenige Zentimeter an das des Wächters heran. Der Geruch verfaulender Rosenblätter raubte ihm fast das Bewußtsein.
»Wenn du mich anrührst…«, begann sie.
Der Blick des Palastwächters huschte kurz zu den Drachenställen. Sybil Käsedick erbleichte.
»Das wagst du nicht!« zischte sie.
Der Mann schluckte. Die Frau vor ihm – wenn diese Bezeichnung zutraf – jagte ihm zwar einen gehörigen Schrecken ein, aber letztendlich war sie nur ein Mensch. Sie konnte einem höchstens den Kopf abreißen, bildlich gesprochen. Es gab viel schlimmere Dinge als Lady Käsedick, sagte er sich – obgleich sie derzeit nicht nur drei Zoll von seiner Nase entfernt waren.
»Maßnahmen ergreifen«, krächzte er.
Lady Käsedick richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und musterte die Wächter hinter dem Offizier.
»Ich verstehe«, sagte sie kühl. »So ist das also, nicht wahr? Sechs Männer, um eine schwache, hilflose Frau zu überwältigen. Nun gut. Ihr werdet mir natürlich gestatten, einen Mantel überziehen. Es ist
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