Wachen! Wachen!
genaue Form zu erinnern. Es erging ihm so wie mit vielen vertrauten Dingen: Seit Jahren hatte er dem Turm kaum Beachtung geschenkt. Er wollte sich nun davon überzeugen, daß der Wald aus kleinen Minaretten und Zinnen ganz oben ebenso aussah wie gestern.
Es fiel ihm schwer.
Mumm wandte nicht den Blick davon ab, als er eine Hand um Colons Schulter schloß und den Feldwebel in die richtige Richtung drehte.
»Fällt dir auf dem Turm irgend etwas auf?« fragte er.
Colon starrte eine Zeitlang durch die Nacht und lachte nervös. »Nun, man könnte meinen, dort oben hockt ein Drache, nicht wahr?«
»Ja. Diesen Eindruck habe ich ebenfalls gewonnen.«
»Allerdings, äh, wenn man genauer Ausschau hält, sind es nur Schatten und Efeubüschel und so Zeug. Ich meine, wenn man ein Auge schließt, sieht’s aus wie zwei alte Frauen mit einer Schubkarre.«
Mumm kniff ein Auge zu. »Nein«, widersprach er seinem Feldwebel. »An der Form des Drachen ändert sich kaum etwas. Außerdem ist es ein recht großes Exemplar. Sitzt irgendwie zusammengekauert und sieht nach unten. Man kann deutlich die zusammengefalteten Schwingen erkennen.«
»Bitte um Verzeihung, Sir. Was du für Schwingen hältst, ist nur eine geborstene Zinne.«
Erneut beobachteten sie eine Weile.
»Sag mir, Feldwebel«, begann Mumm, »weißt du, ich frage aus reiner Neugier: Warum sieht es jetzt so aus, als entfalte der Drache zwei große Schwingen?«
Colon schluckte.
»Nun, Sir, ich glaube es liegt daran, daß der Drache zwei große Schwingen entfaltet.«
»Haargenau richtig, Feldwebel.«
Der Drache ließ sich fallen. Er glitt nicht etwa von dem Dach des Kunstturms fort, sondern stürzte in die Tiefe und verschwand hinter den anderen Gebäuden der Universität.
Mumm lauschte unwillkürlich nach dem dumpfen Krachen des Aufpralls.
Und dann erschien der Drache wieder, sauste wie ein Pfeil, wie eine Sternschnuppe, bewegte sich wie etwas, das nach einem Sturzflug mit fast zehn Metern pro Sekunde pro Sekunde steil nach oben rast. In (menschlicher) Kopfhöhe jagte er über die Dächer der Stadt, und dabei erklang ein schreckliches Geräusch. Es hörte sich an, als werde die Luft mit langsamer Gründlichkeit zerrissen.
Die Wächter preßten sich möglichst flach an die Schindeln. Aus den Augenwinkeln sah Mumm ein gewaltiges, irgendwie pferdeartiges Gesicht, bevor das Ungetüm vorbeiglitt.
»Dreimal verfluchte Kacke!« ächzte Nobby. Seine Stimme erklang im Bereich der Regenrinnen.
Mumm griff nach dem Rand des Schornsteins und zog sich hoch. »Du bist in Uniform, Korporal Nobbs«, sagte er, und es klang fast völlig ruhig.
»Entschuldigung, Hauptmann. Dreimal verfluchte Kacke,
Sir.«
»Wo ist Feldwebel Colon?«
»Hier unten, Sir. Halte mich an einem Abflußrohr fest, Sir.«
»Bei allen Göttern – hilf ihm hoch, Karotte!«
»Donnerwetter!« entfuhr es dem Jungen. »Seht nur!«
Man konnte mühelos feststellen, wo sich der Drache befand – das Klappern vieler Pfeile gab einen deutlichen Hinweis. Außerdem gab es weitere Anhaltspunkte: Manche Schäfte prallten von steinernen Figuren ab und trafen Amateur-Drachentöter, die daraufhin hingebungsvoll stöhnten.
»Er hat noch nicht einmal mit den Schwingen geschlagen!« rief Karotte und versuchte, auf den Schornstein zu klettern. »Seht nur!«
Das Wesen sollte nicht
so
groß sein,
dachte Mumm, als er beobachtete, wie der gewaltige Schatten über den Fluß hinwegsegelte.
Meine Güte, es ist so lang wie eine Straße!
Eine Flamme züngelte über den Docks, und für einige wenige Sekunden zeigte sich der Drache vor dem Mond.
Dann
hob und senkte er die Schwingen, nur einmal. Mumm hörte das Geräusch und dachte an Tierhäute und Felle, die von zornigen Gerbern bearbeitet wurden.
Der Drache wendete – er brauchte dazu erstaunlich wenig Platz –, schlug mehrmals mit den Flügeln, beschleunigte und kehrte zurück.
Als das Ungeheuer übers Wachhaus flog, spuckte es weißes Feuer. Die Dachziegel schmolzen nicht einfach, sondern platzten funkenstiebend auseinander. Der Schornstein explodierte, und Ziegelsteine regneten auf die Straße.
Breite Schwingen prügelten die Luft, als der Drache über dem brennenden Gebäude schwebte und weiterhin Flammen ausatmete. Innerhalb weniger Sekunden verwandelte sich das Haus in einen glühenden Haufen. Als nur noch eine Pfütze aus geschmolzenem Fels mit interessanten Streifenmustern und Blasen übrigblieb, wandte sich der Drache verächtlich davon ab und glitt hoch über die
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