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Wachgeküßt

Wachgeküßt

Titel: Wachgeküßt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Harvey
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aber ich befürchte, daß ich einen bedeutenden Teil des Heilungsprozesses verpaßt habe, indem ich ihr aus dem Weg gegangen bin.
    Wenn ich mal nicht das Telefon mit dem Wunsch angestarrt habe, es möge doch klingeln, aber gleichzeitig in der verzweifelten Hoffnung, daß es das nicht tut, dann hing ich selbst dran und klärte nahe Freunde und Verwandte über den aktuellen Stand der Dinge und meine vorläufige neue Adresse auf.
    Das ist das Schwerste. Ich weiß nicht, wie ich es den Leuten beibringen soll, und sie wissen nicht, wie sie reagieren sollen. Alle sind lieb und nett zu mir, aber sobald ich Max’ Namen erwähne, will ich schimpfen, keifen, ordinäre Dinge sagen und mir die Lunge aus dem Leib brüllen.
    Für alles und jedes auf dieser Welt sind Grußkarten erfunden
worden. Warum kann man nicht einfach eine Packung Karten kaufen, wie man es mit Geburtstagseinladungen tut? »Hiermit ergeht die Mitteilung, daß Alex Gray und Max Montcrief sich getrennt haben. Bitte bringt etwas zu trinken mit.«
    Ich habe noch nicht einmal den Mut, meine Mutter anzurufen. Während ich immer dachte, daß Max seine Eingeweide nur aus dem Grund hat, um zu furzen, fand Mutter unerklärlicherweise, daß sie eine Vorratskammer für strahlenden Sonnenschein sind. Ich kann nicht gleichzeitig mit ihrem und mit meinem Kummer fertig werden.
     
    Freitag abend unternehme ich meine erste Expedition außer Haus.
    Mein Bruder hat mich zum Abendessen zu sich nach Hause eingeladen. Die Tatsache, daß ich zugestimmt habe, beweist, in welch schlechter Verfassung ich bin. Jem kann ungefähr so gut kochen, wie ein Elefant mit Schwimmflossen steppen kann. Ich tröste mich mit dem Gedanken, daß ich wenigstens in guter Gesellschaft sein werde, und daß es reichlich Alkohol gibt, auch wenn das Essen in der Regel ungenießbar ist.
    Außerdem könnte ich mir vorstellen, daß er Mutter alles erzählt, wenn ich nur ordentlich auf die Tränendrüse drücke. Gegen acht Uhr komme ich zu dem umgebauten Lagerhaus, in dem er eine Wohnung im zweiten Stock hat, und drücke auf die Klingel der Sprechanlage. Es ist mein erster öffentlicher Auftritt seit dem letzten Wochenende.
    »Hallo?« Die Stimme meines Bruders knistert in dem glänzenden, geriffelten Mikrophon.
    »Ich bin’s.«
    »Wer ist ich?«
    »Laß den Quatsch, und mach auf, Jem.«
    Seit er sich vor sechs Monaten von seiner langjährigen Freundin getrennt hat, ist er dabei, seine Wohnung in einen subtil ausgeklügelten
Tempel der Verführung umzuwandeln – mit Dielenböden und hohen Decken, ein Ort, der wie geschaffen ist für Understatement und Kerzenlicht. Jems Wohnung hat mir schon immer gut gefallen, aber jetzt, da ich mehr oder weniger obdachlos bin, wird die Eifersucht fast spürbar.
    Mit dem üblichen Maß an brüderlicher Liebe knuddelt er mich fast zu Tode und gibt mir einen dicken, feuchten Schmatzer auf die Wange. Ich bin mir nicht sicher, ob er sich darüber freut, mich zu sehen, oder über die zwei Flaschen australischen Weißweins, die ich mit den Händen umklammere wie Alkoholkrücken.
    »Wie geht’s, Schwesterherz?« In seiner Stimme schwingt derselbe besorgte Unterton mit wie bei allen anderen, mit denen ich zur Zeit rede, so als wäre ich eine rekonvaleszente Invalidin oder so etwas.
    Ich zucke unverbindlich die Achseln. Das alles ist erst sechs Tage her, und ich fühle mich wie ein Stück Scheiße, in das jemand mit sehr großen Füßen getreten ist. Den größten Teil dieser sechs Tage habe ich in Tränen aufgelöst verbracht, hin- und hergerissen zwischen meinem leidenschaftlichen Haß auf Max und meiner leidenschaftlichen Liebe zu ihm. Irgendwie klappt das mit dem Hassen besser. Es hat etwas sehr Heilsames, dauernd laut und aus vollen Lungen »Arschloch! Arschloch! Arschloch!« zu brüllen, wie ein Mantra. Das bringt mehr Trost, als auf ein altes Foto von uns beiden angeblich Verliebten zu starren, während ich die zweiundzwanzigste Klorolle vollschniefe.
    Aus der Küche dringt ein eigenartiger Geruch. Ich weiß nicht, was es ist, ich will es auch gar nicht wissen. Ich wage nicht zu fragen, falls es sich etwa um das handelt, was ich gleich essen soll. Ich hoffe nur, daß dieses Abendessen nicht mit Jems Waschtag zusammenfällt, an dem er seine Unterhosen in die Kochwäsche gibt, denn genau so riecht es.
    Er stellt die zwei Flaschen kalt, holt eine vorgekühlte Flasche Sauvignon Blanc und zwei Gläser aus dem Kühlschrank und
bringt alles zu dem Tisch im großen Wohnzimmer, der

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