Wachgeküßt
schon für das Abendessen gedeckt ist.
»Also, wie geht’s dir?« wiederholt er.
»Das hast du mich schon gefragt.«
»Stimmt, aber du hast noch nicht geantwortet.«
Die Sprechanlage gibt erneut ein Summen von sich.
Die Klingel ist meine Rettung. »Kommt etwa noch jemand zum Abendessen?« Ich gebe mir Mühe, begeistert zu klingen, aber mir liegt im Moment nichts an unterhaltsamer Gesellschaft.
»Nein«, Jem grinst mich an, »das ist das Abendessen.«
Erlöst! Das Abendessen wird gebracht, statt von meinem Bruder zusammengepanscht zu werden. Mein Magen, der seit der Schlafzimmerszene vergangenen Samstag nervös und wie zugeschnürt war, entkrampft sich ein wenig bei dem Gedanken, daß er nach fast einer Woche vielleicht für eine normale Portion Essen zu haben wäre. Bei meiner Junk-food-Diät habe ich in knapp sechs Tagen drei Kilo abgenommen. Ich will mich nicht beklagen. Es ist ganz nett, in meinem Alter ein bißchen abzunehmen, ohne sich zwingen zu müssen, auf die üblichen Gaumenfreuden zu verzichten, wie Schokolade, Alkohol und mein persönliches Lieblingsessen: belgische Brötchen mit Creme fraîche und Zitronenquark. Von denen habe ich Montag nachmittag gleich vier hintereinander weggeputzt.
Jem hüpft treppab und kommt dann mit zwei großen, braunen, fettigen Papiertüten im Arm wieder.
»Essen fassen! So wie du aussiehst, kannst du es brauchen. Du bist zu dünn. Hager. Das ist unattraktiv.«
»Wer braucht das schon, attraktiv sein?« murmele ich finster.
»Du. Jetzt mehr denn je, wenn du dir einen anderen, ahnungslosen Knaben einfangen willst.« Er versucht, mich aufzuheitern, aber mir ist nicht nach Lachen zumute.
Er wartet. Ich verziehe keine Miene. Wieder lacht er mir ermutigend
zu, aber ich glotze ihn nur weiter wie ein mürrisches Kamel an.
»Ich weiß ja, daß es weh tut, aber du mußt darüber wegkommen, Lex.« Er hört auf, Schachteln aus den Tüten zu holen und sie auf den Tisch zu stellen, runzelt die Stirn und sieht mich streng, aber besorgt an.
»Es ist ja erst sechs Tage her.« Ich glaube, ich brauche noch eine Weile, um das zu verkraften.«
»Na gut. Solange du dich nicht darin vergräbst. Du willst doch nicht etwa wieder mit Max zusammensein, oder?« Er knüllt die leeren Tüten zusammen und geht in die Küche.
»Man kann nie wissen«, werfe ich vorsichtig ein und folge ihm.
Jem zieht die Augenbrauen in die Höhe, den Fuß am Abfalleimer.
»Nein, wohl eher nicht«, füge ich mich. »Ich würde ihm nie mehr vertrauen.«
»Die Dinge standen ja auch nicht gerade gut zwischen euch, stimmt doch, oder?«
Ich schüttele den Kopf.
»Wenn das so ist, dann solltest du dich zusammenreißen und nach vorne blicken.«
»So wie du, nachdem Alison weg war?«
»So ungefähr«, räumt er ein. Er nimmt vorgewärmte Teller aus dem Ofen und geht vor mir aus der Küche und zum Eßtisch.
»Wie hast du es geschafft, damit fertig zu werden?« frage ich und schwinge meinen Allerwertesten auf einen Holzstuhl.
»Das Leben geht weiter«, äußert mein Bruder höchst philosophisch. »Und außerdem mag ich mich selbst. Wenn eine Beziehung in die Brüche geht, fragt man sich leicht: >Was habe ich falsch gemacht?< So hätte ich auch reagieren können, als Ali weg war. In Selbstzweifel versinken... dabei war eigentlich niemand wirklich schuld. Wir sind beide in Ordnung, nur zusammengepaßt haben wir nicht.«
Mein Bruder furzt, popelt in der Nase, rülpst laut, ißt kalte Essensreste zum Frühstück, zieht drei Tage hintereinander dieselben Socken an, ruiniert ein Fertiggericht, das von Meisterkoch Anton Mosimann zubereitet wurde, gibt zu, daß er Baywatch nur wegen der Titten und der Ärsche anschaut und schafft es trotz alledem, sich zu mögen. Das nenne ich Selbstbewußtsein.
»Du mußt nicht perfekt sein, um ein guter Mensch zu sein«, sagt Jem, der anscheinend Gedanken lesen kann.
»Bist du sicher?«
»Wessen Definition von Perfektion willst du denn eigentlich gerecht werden?« Geschickt zieht er den Korken aus der Flasche Weißwein und reicht mir ein Glas. »Perfektion ist relativ. Sie ändert sich von Mensch zu Mensch. Jeder hat andere Ideale. Du mußt deine eigenen Werte finden und nach ihnen leben, so gut du kannst. Dann wirst du auch zufrieden mit dir selbst sein. Was immer du tust, du darfst nie versuchen den Idealen anderer Leute gerecht zu werden, dann kannst du dich nur elend und als Versager fühlen, wenn es nicht klappt. Wenn jemand es wert ist, geliebt zu werden, dann für das,
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