Wachkoma
immer wie betäubt.
Der Wein hatte zwar allerbeste Arbeit geleistet, doch die Wirkung ließ mit zunehmendem Kopfschmerz immer mehr nach. Tabletten hatte sie nicht, also würde sie es mit einer kalten Dusche versuchen.
Während das Duschwasser wie ein kleiner Platzregen auf sie herunterprasselte, fragte sie sich, was wohl schlimmer gewesen war – der unerklärlich vertraute Inhalt der gestrigen Worte oder die verrückte Dürre, die sie aussprach?
Beata fand keine Antwort darauf. Ihr Kopf war noch zu vernebelt, um einen klaren Gedanken zu fassen.
Aber sie konnte sich am Abend vorher noch sehr klar an das vorletzte Weihnachten erinnern. Da hatte sie diesen heftigen Streit mit ihrer Mutter.
Beata erinnerte sich sehr gut, wie sie in der Wohnküche standen, während die Gäste draußen im Esszimmer auf das Dessert warteten.
Ihre Mutter warf ihr so einiges vor, während sie das Dessert in kleine Schälchen füllte, sprach davon, sie sei ermattet, farblos wie eine Schachfigur, stelle die falschenFragen an das Leben und setze falsche Prioritäten, sehe die Karriere immer an erster Stelle. Sie spreche eine andere Sprache, die selbst sie als Mutter nicht mal mehr verstehe, die niemand mehr verstehe. Sie sei verschlossen, distanziert und immer in Abwehrhaltung. Ihr altes Wesen sei nicht mehr wirklich zu erkennen, wenn sie nach Feierabend in ihrer Arbeitskleidung erscheine.
Ihre Mutter sagte damals das, was die Dürre am Vorabend auch gesagt hatte, wenn auch mit anderen Worten.
Spielte ihr das Gedächtnis erneut einen Streich?
Und wieso tauchte diese Dürre immer so plötzlich auf und verschwand dann wieder? Tagelang ungesehen? Und wusste Dinge über sie, die niemand wusste? Und wieso sah das bloß niemand?
Verdammt, wer war diese Dürre?
Beata hatte das Bedürfnis, mit irgendjemandem zu reden. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft war ihr danach, sich mitzuteilen, bevor sie noch verrückt würde.
Nur wem?
Noch immer unter der Dusche stehend, kam ihr Silvester in den Sinn. Doch würde sie mit ihm darüber sprechen können?
Sicherlich hätte er sie tatsächlich für verrückt erklärt und belächelt, so wie er eben immerzu lächelte. Und vielleicht sogar gesagt, dass alles so sein müsse, und noch bekräftigt, was die Dürre ihr Absurdes vorwarf.
Vielleicht hätte er von Verschiebung und Projektion gesprochen, mit der Dürren als Symbol für ihre Mutter, denn so lief das doch immer – alles wurde erst einmalgrundsätzlich auf das Verhältnis zwischen den Kindern und ihren Eltern geschoben, ob es tatsächlich so war, spielte dabei keine Rolle.
Allerdings war es nicht so, das wusste Beata; bemüht, bei diesem Gedanken nicht wieder in Rage zu geraten.
Silvester hatte zudem gesehen, wie schwer es ihr gefallen war, „Leidenschaft“ auf das Papier zu bringen, als habe sie tatsächlich keine Träume mehr.
Nein, dachte sie, mit Silvester würde sie nicht sprechen können. Und sogleich kam ihr die alte Dame mit den grauen Zöpfen in den Sinn. Die bessere Wahl, wie sie fand.
Beata stellte das Wasser ab, stieg aus der Dusche und wickelte sich ein Handtuch um. Der Badezimmerspiegel war durch die feuchte Duschluft beschlagen. Sie wischte ihn mit dem Handrücken frei und blickte sich darin an.
Doch frisch und regeneriert sah irgendwie anders aus.
***
Nur kurze Zeit später fragte sie an der Rezeption nach der Zimmernummer der alten Dame.
Man konnte ihr jedoch keine Auskunft geben; und Beata stellte fest, dass sie nicht einmal ihren Namen kannte. So beschloss sie einfach, bis zum Grußkartenschreiben am Nachmittag abzuwarten.
Die ältere Dame kam allerdings nicht.
Auch nicht am darauffolgenden Tag. Selbst beim Abendessen konnte Beata sie nirgends erblicken.
Sie würde Silvester nach ihr fragen.
„Sie ist leider nicht mehr hier.“
„Abgereist?“, fragte Beata ungläubig.
„Sie schien mir aber noch nicht erholt. Im Gegenteil, sie machte einen sehr depressiven und geradezu verwirrten Eindruck auf mich.“
„Depressiv war sie auch zum Schluss noch, aber nicht verwirrt“, erklärte Silvester und neigte geradezu andächtig den Kopf.
„Sondern?“, stammelte Beata ungläubig.
„Sie war am Schluss sehr klar, Beata.“
Beata konnte nicht glauben, was Silvester anzudeuten schien. Und doch berührte es sie.
Sie erinnerte sich an einen Spruch, auf den sie in dem kleinen Büchlein erst kürzlich gestoßen war, und nahm sich vor, ihn auf die nächste Grußkarte zu schreiben.
„Der Zweifel des Sieges entschuldigt
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