Wachkoma
erstreckte sich mittlerweile bis ins Unermessliche. Die Luft war kalt und klar, nicht einmal mehr der Wind blies.
Beata lief zügig den Feldweg entlang, eingepackt bis unter die Nasenspitze. Ihr warmer Atem verdunstete wie eine Rauchwolke an der kalten Luft.
Die Jahreswende lag nicht mehr weit entfernt und Beata kannte bereits ihren guten Vorsatz fürs neue Jahr – sie würde wieder ihre Mitte finden.
Sie hatte die Jahreswende sonst allein auf dem Sofa zugebracht, mit zwei Flaschen Champagner.
Nicht, dass sie keine Einladungen zu oberflächlichen Silvesterpartys drittklassiger Bekannter gehabt hätte, sie schaute sich nur einfach lieber die wirklichen Klassiker an – und die liefen im Fernsehen. Die brachten immer noch mehr Unterhaltung als diese aufgesetzten Partys und verlangten auch nicht, dass man sich über Themen unterhielt, die eigentlich niemanden interessierten.
In den besseren Kreisen war das ohne Zweifel der Klatsch und Tratsch der anderen – je nachdem, wer gerade nicht da war, sodass jeder einmal der Sensationslust zum Opfer fiel. Klatsch war ganz dicht gefolgt von neuem Luxus, der gerade angesagt war.
Um Punkt zwölf ging Beata immer allein mit einem Glas Champagner auf die Dachterrasse ihres Penthouses und schaute dem Treiben der anderen zu. Amüsierte sich darüber, wie viel Geld sie sinnlos in die Luft jagten, wenn sie ihre Feuerwerkskörper anzündeten, um sichim neuen Jahr wieder darüber zu beklagen, wie knapp das Geld doch sei.
Beatas Vorsatz war somit immer schnell gefunden: Sie würde keine Feuerwerkskörper in die Luft jagen. Ein Vorsatz, den sie bisher auch immer eingehalten hatte. Doch dieses Jahr hatte sie ihre Ziele etwas höher gesteckt.
„Beata, bitte achten Sie darauf, dass Sie beim Gehen den Fuß von der Ferse bis zur Sohle abrollen“, erinnerte sie der Coach freundlich, der ein paar Meter hinter ihr auf dem zugeschneiten Feldweg lief.
Wenn sie für gewöhnlich in den Pausen am Main joggen ging und ihr Walker entgegenkamen, waren das meist ältere Leute, die aussahen, als würden sie spazieren, nicht jedoch einer sportlichen Herausforderung nachgehen.
Weit gefehlt – jetzt musste sie sich doch tatsächlich auf die Technik konzentrieren.
Schritt für Schritt lief sie, gemeinsam mit den anderen Teilnehmern und dem Coach, den Feldweg entlang.
Der Schnee knirschte laut unter ihren Laufschuhen.
Dieser Kurs sollte ein erster Schritt in Richtung Mitte sein. Beata glaubte, von ihrem extremen Laufsport einen Gang herunterzuschalten, sei ein guter Anfang. Es war zudem eine angenehme Form der Gesellschaft. Sie selbst konnte entscheiden, ob sie sich in die Gespräche der Gruppe einbrachte oder, wie meistens, ihnen einfach nur zuhörte.
Sie war beim Walken weder vorgestoßen, so wie sie es beim Joggen immerzu tat, noch bildete sie das Schlusslicht.
Beata war einfach mittendrin.
Und fühlte sich gut damit.
Zurück im Hotel, nahm sie erst einmal eine heiße Dusche. Wer hätte gedacht, dass man beim Walken sogar ins Schwitzen geraten würde.
Nach dem Ausflug an der frischen Luft fühlte sie sich immer ein kleines Stückchen näher bei sich. Sie genoss dieses Gefühl und wollte sich auch weiterhin bewusst nur noch auf das konzentrieren, was ihrer Mitte guttat.
In diesem Sinne zog sie nach dem Duschen ihren Bademantel über und begab sich in den Wellnessbereich des Anwesens.
Sie startete mit einem aromatischen Saunaaufguss, so wie die letzten Tage zuvor auch schon, und würde ihr Wellnessprogramm heute mit einer Hot-Stone-Massage beenden. Von dieser neuen Massageform hatte sie schon öfter gehört, jedoch bisher nicht die Zeit gefunden, sie selbst auszuprobieren. Auch der neue Sekretär aus dem Büro ging regelmäßig in der Mittagspause zur Hot-Stone-Massage um die Ecke.
Beata verärgerte das von Beginn an, denn es drängte sich ihr unweigerlich der Gedanke auf, dass er zu viel Zeit hatte und sie ihn nicht ausreichend mit Arbeit auslastete. Schließlich konnte keiner einfach in der Pause zur Massage gehen. Schon gar kein Sekretär, wie Beata fand. So gab sie ihm noch mehr Arbeit.
Wobei die Steigerung „mehr“ nicht wirklich zutraf. Es war unausführbar viel mehr. Beata war natürlich bewusst, dass sie wegen derartiger Schikanen nicht gerade die Beliebteste im ihr unterstellten Kollegium war. Auch, dass der neue Sekretär bereits der zweite Neue in diesem Jahr war, ließ sie nicht unbedingt vor ihren Kollegen glänzen. Doch darüber blickte sie wie für gewöhnlich gelassen
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