Wachkoma
Und spürte auch die Stille. Es war ganz ruhig draußen geworden und alles Leben schien gefroren, als ruhe es in einem lieblichen Winterschlaf. Aus dem Beata wieder erwacht war.
Sie verließ ihr Zimmer und lief zielstrebig zum Empfang. Ein Mitarbeiter war dort, ebenso wie drei Gäste, die so entspannt auf den Sofas vor dem Kamin saßen, wie Beata ein paar Tage zuvor auch, und ein Buch lasen.
Beata fragte nach der Zimmernummer der Dürren.
„Man erwartet mich bereits“, fügte sie hinzu und erhielt schließlich die Zimmernummer 202.
Kurz darauf stand sie auch schon vor Zimmer 202. Es lag im ersten Stock, in einer anderen Etage als Beatas Zimmer. Sie klopfte an. Als keiner reagierte, klopfte sie schließlich stärker gegen die Tür, doch es schien niemand da zu sein. Vorsichtig drückte sie die Türklinke nach unten. Und die Tür ging auf.
Beata blickte kurz um sich und ging dann ungesehen hinein.
Leise schloss sie die Tür wieder hinter sich.
Sogleich stürzte sie auf die Schränke zu. Öffnete jede Schublade, jedes Fach. Durchwühlte alles, was ihr in die Finger kam. Auf der Suche nach nichts. Was sollte sie auch finden? Vielleicht eine Notiz? Einen Namen? Eine Telefonnummer ihrer Mutter? Einen Beweis dafür, dass hier etwas nicht stimmte, dass man sich gegen sie verschworen hatte?
Beata erinnerte sich an die erste Begegnung mit der Dürren am Esstisch. Wie zielstrebig sie auf sie zugekommen war. Die Begegnung beim Grußkartenschreiben. Auf der Hollywoodschaukel. Im Kaminzimmer ein paar Tage zuvor. Die Geschichte vom kleinen Kometen. Der Streit mit ihrer Mutter, von dem die Dürre zu wissen schien. Und Silvester. All das konnte kein Zufall sein. Und sie würde es herausfinden. Sich ihre Seele wieder holen, statt einfach nur abzuwarten.
Sie öffnete schließlich den Kleiderschrank. Er war komplett leer. Wo hatte sie bloß ihre Kleider?
„Ich wollte nur wissen, ob du den Mut hast, wie ein Narr auszusehen“, hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich sprechen. „Um endlich wieder ein lebendiger Mensch zu sein. “
Beata wagte nicht, sich umzudrehen. Nachzuschauen, wer den Raum so leise betreten hatte, dass sie es nicht bemerkte. Doch sie ahnte es. Und fühlte sich in diesem Moment tatsächlich wie ein Narr.
***
Die Dürre hatte Beata auf diesen Zwischenfall nicht mehr angesprochen. Und Beata hatte Silvester nicht mehr angesprochen. Sie wäre sonst laut geworden, auch wenn sie versucht hätte, ruhig zu bleiben. Hätte furchtbar emotional gewirkt, wo sie doch sonst so sachlich bleiben konnte.
Doch die Verhältnisse schienen auch ohne große Worte klar zwischen ihnen.
Wie immer, wenn Beata eine kleine Flamme, zwischen sich und einem anderen, löschte. Bis nichts mehr da war.
Sie griff zudem nach der kleinen Auszeit ihre Grußkartenarbeit wieder auf und schrieb auf ihre erste Karte:
„Die Aufgabe heißt ‚Hindurch!‘ und nicht ‚Drunterweg!‘.“
Georg Stammler (1856-1938)
Dieser Ort hatte einfach lange genug diesen lähmenden Einfluss auf sie genommen, sodass sie, zufrieden mit ihrer Spruchwahl, die Grußkarte beiseitelegte, gerade im Begriff, sich der nächsten Karte zu widmen, als die Tür aufging.
Von den anderen Damen ließ sich, wie erwartet, keine aus dem Konzept bringen.
So war es nur Beata, die aufblickte und wieder die Dürre sah, die soeben den Raum betrat.
Ein sehr hübsches Mädchen, dachte Beata, als sie, wie bei ihrer ersten Begegnung damals beim Essen, den Blick nicht von ihr lösen konnte. Sie war blass und wirkte so zerbrechlich. Genau das Gegenteil von Beata.
Mit tiefgründigem, aber verträumtem Blick, so abwesend, als würde sie zeitgleich noch woanders sein.
Die Dürre lief zu Beata und setzte sich erneut neben sie, an den leeren Teil des Tischs, und flüsterte mit leiser Stimme: „Hast du den Tiefpunkt denn schon erreicht, Beata?“
Wie die vorherigen Male auch, erwartete sie keine Antwort auf ihre Frage, auf die Beata sowieso nicht so schnell eine Antwort gefunden hätte.
Sie war gerade im Begriff, aufzustehen, ohne dass eine der Damen aus dem Kurs auch nur einmal aufgeblickt hätte.
Doch jetzt hielt Beata sie kurz entschlossen am Arm fest, denn das war längst überfällig gewesen.
„Was willst du von mir?“, fragte Beata sie eindringlich.
Doch sie hatte den Griff nicht halten können, aus dem sich die Dürre befreite und wieder so schnell verschwand, wie sie gekommen war.
***
Zwei Wochen lang hatte es geschneit und der schneeweiße Landstrich
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