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Wachsam

Wachsam

Titel: Wachsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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Beziehung zeigte sich bei ihrem ersten Besuch in Greenwich. Da ein vollendet schöner Sommertag dem anderen folgte, war es nur natürlich, daß Helen und Cassidy ihre Suche nach Erbauung und Belehrung auf die weitere Umgebung ausdehnten. Anfangs begnügten sie sich mit den größeren Londoner Parks, wo sie Drachen und Segelflugzeuge steigen und Boote auf den Teichen schwimmen ließen. Doch die Parks waren voll von den Viel-zu-vielen und brünstigen Proleten in rosa Unterwäsche, und sie kamen überein, daß es Shamus lieber sei, wenn sie sich ein Plätzchen für sich suchten, auch wenn es längere Ausflüge bedingte. Daher fuhren sie mit dem Bentley nach Greenwich, und dort stießen sie auf die Jacht, mit der Sir Francis Chichester mutterseelenallein um die Welt gesegelt war. Sie lag nicht auf dem Wasser, sondern in Zement; für immer darin einbalsamiert, nur wenig vom Ufer entfernt.
    Eine Weile sprach keiner von ihnen.
    Cassidy etwa war sich in keiner Weise sicher, wie er reagieren sollte. Daß das Boot schnittig gebaut sei, mein Gott, sehen Sie sich diese Proportionen an? Daß es sinnlose Verschwendung sei, ein absolut seetüchtiges Boot aus dem Verkehr zu ziehen, ob Steuergelder darin steckten? Oder daß er sich wünschte, sie könnten damit hinausfahren, nur sie drei, möglichst auf eine einsame Insel.
    »Ich habe noch nie etwas so Trauriges gesehen«, sagte Helen plötzlich.
    »Ich auch nicht«, sagte Cassidy.
    »Wenn ich denke, daß es einmal frei war … lebendig, wild …«
    Cassidy griff das Argument sofort auf. Es sei in der Tat ein höchst tragischer und deprimierender Anblick, er werde an den Stadtrat von Groß-London schreiben, sobald er wieder in seinem Büro sei. Angetan von der Übereinstimmung ihrer unabhängig gefaßten Meinungen eilten sie nach Hause, um Shamus daran teilhaben zu lassen. »Wir wollen nächstens in der Nacht alle drei hinfahren«, schlug Cassidy vor, »mit Picken, und die Jacht freilegen!«
    »O ja, das tun wir«, sagte Helen.
    »Zum Kotzen«, sagte Shamus und ging ins Badezimmer, unzweifelhaft um sich zu übergeben.
    Später entschuldigte er sich. Ein unwürdiger Gedanke, sagte er, verzeih, Lover, verzeih. Er habe Visionen von Christopher Robin gehabt, alles falsch, alles falsch.
    Doch als Cassidy sich auf den Heimweg machte und die Eisentreppe hinunterstieg, traf ihn ein Wasserschwall, der nur aus dem Schlafzimmerfenster kommen konnte; und er erinnerte sich an das Restaurant Lipp in Paris, an seine Taufe und an Shamus’ Pein.
     
    Es schien, als ob die Wolke vorübergezogen sei, bis eines Tages – eine, vielleicht zwei Wochen später – Halls Sportschule geschlossen war. Cassidy und Shamus gingen eines Montags hin und sahen sich vor der versperrten Eisentür, und in den unzerbrechlichen Fenstern brannte kein Licht.
    »Ist zu einem Kampf gegangen«, sagte Shamus, und sie spielten statt dessen Fußball.
    Am Donnerstag gingen sie abermals hin, und die Tür war noch immer verschlossen, jetzt mit einer Eisenstange und einem seltsam amtlich aussehenden Vorhängeschloß und einem Siegel auf dem Haken.
    »In Urlaub gefahren«, sagte Cassidy und dachte an Angie Mawdray, die tags zuvor mit einem von der Firma gekauften Billett nach Griechenland abgereist war. Und sie machten einen Dauerlauf um den Battersea-Park und schaukelten auf der Wippe.
    Als sie zum dritten Mal hingingen, fanden sie einen Zettel, auf dem ›Geschlossen‹ stand, und sie klingelten bei Sal, bis sie öffnete. Hall sei im Bau, sagte sie, sehr verschreckt, er habe einen amerikanischen Bootsmann verdroschen, der frech geworden sei, und sitze drei Monate in Wormwood Scrubs ab. Sie hatte ein blaues Auge und eine verbundene Hand und machte ihnen die Tür vor der Nase zu, sobald sie Auskunft gegeben hatte. Aber aus dem Wohnzimmer roch es nach Zigarren, und oben hörte man ein Radio spielen, und daraus schlossen sie, daß der amerikanische Bootsmann keinen unheilbaren Schaden davongetragen hatte.
     
    Die Neuigkeit hatte auf Shamus eine seltsame Wirkung. Zuerst geriet er in Wut und machte wie der alte nicht reformierte Shamus ausschweifende Pläne für die Befreiung seines Freundes: den amerikanischen Botschafter kidnappen zum Beispiel oder das Schiff des Bootsmanns konfiszieren. Er legte ein Arsenal geheimer Waffen an: Drahtschlingen, Feilen und Stücke von Fahrradketten an Holzgriffen. Er plante einen Massenausbruch sämtlicher Gefängnisinsassen. Auf diese aggressive Stimmung folgte eine Anwandlung tiefster Melancholie

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