Wachsam
Tiere, nur allzuleicht fehlinterpretiert werden.
»Prächtig«, sagte Shamus nur, als er alles gehört hatte. »Prächtig«, und kehrte, nachdem er beide nacheinander herzlich umarmt hatte, zu seinem Schreibtisch zurück.
Ein paar Tage danach gingen die beiden Männer zum ›Zusammenstoß‹ hinüber zu Hall, und Shamus konnte einen schmerzhaften Schlag auf Halls Auge landen. Halls Gegenschlag traf ihn im Magen, hart, knapp unterhalb des Brustkorbs, an der Stelle, die Boxer das Mark nennen, und Shamus wurde weiß und von Übelkeit erfaßt und noch stiller als zuvor.
Da Shamus völlig in seiner Arbeit, in Enthaltsamkeit und Kontemplation aufging, war es unvermeidlich, daß Helen und Cassidy viel Zeit mit ihren eigenen Beobachtungen verbrachten. Stundenlang saß Shamus, bald in seinem Leichenfrack, bald pudelnackt am Fenster, die Baskenmütze wie einen Käfig bis über die dunklen Brauen gestülpt, und ließ gesenkten Kopfes die Feder über das Papier eilen. Nicht einmal an Moon , sagte Helen, habe er soviel Eifer, soviel Fleiß gewendet: »Und dafür hat er Ihnen zu danken. Lieber Cassidy.«
»Ist es immer noch die Überarbeitung «, fragte Cassidy, als er mit ihr bei Boulestin lunchte. »Für mich sah es wie ein ganz neuer Roman aus.«
Helen sagte, nein, sie sei ganz sicher, daß es sich um die Überarbeitung handele. Er habe es Cassidy versprochen, er habe das gleiche Versprechen Dale gegeben: Shamus vergesse nie, nie ein Versprechen.
»Er bezahlt immer, was er schuldet. Ich habe nie einen Menschen mit ausgeprägterem Ehrgefühl gesehen.«
Sie sagte das völlig undramatisch, als eine Aussage über jemanden, den sie beide liebten; und Cassidy wußte, daß es stimmte, eine Tatsache, an der nicht zu rütteln war.
London war Helens Stadt.
Shamus war Paris. Der Kelte, der Nomade, der Träumer, der Praktiker: Sie alle trafen sich im unvorstellbar künstlerischen Ingenium von Paris. Aber Helen war London, und Cassidy liebte sie dafür. Sie liebte Londons Würdigkeit, seinen schäbigen Pomp und vulgären Schmutz. Und obgleich sie beide sich Shamus’ Ausspruch anschlossen, wonach die Vergangenheit nicht der Rede wert sei, hatte Cassidy inzwischen genügend über Helen erfahren, um zu wissen, daß sie den größten Teil ihres Lebens in London zugebracht hatte.
Sie führte ihn.
Sie führte ihn Kaimauern entlang, vorbei an holländischen Lagerhäusern mit den unmöglichsten Aufschriften: Zuckerrohr-Importeure, Walfänger, Currymühlen. Sie führte ihn durch gefährliche Dickenssche Hintergassen mit Gasbeleuchtung und geisterhaft aufragenden Schiffspfählen, wo das Gefühl, jung und gut gekleidet und eine begehrenswerte Beute für Übeltäter zu sein, zum Nervenkitzel wurde. Sie zeigte ihm Altstadtkirchen mit gezackten Konturen; führte ihn in Synagogen und Moscheen, hielt seine Hand in Westminster Abbey, dort, wo Dichter begraben lagen. Sie zeigte ihm leere Märkte, wo braune Hunde beim Laternenschein Brüsseler Sprotten fraßen, und das Abbild Mussolinis im Imperial War Museum . Sie führte ihn zum Anchor und stellte ihn auf ein hölzernes Podest, von dem aus er die sonnenbeschienenen Konturen der St.-Pauls-Kathedrale jenseits des Wassers betrachten mußte; und sie bat ihn, Erster Bürgermeister zu werden, in Pelzwerk und Kette, damit sie ihn besuchen und bei Kerzenschimmer Roastbeef essen könne. Und Cassidy wußte, daß er nichts von alledem je zuvor gesehen hatte, nicht einmal den Tower oder Piccadilly Circus, nicht ehe Helen es ihm gezeigt hatte.
Als Gesprächsthema hatten sie Shamus: ihr Kind, ihre Familie, ihr Freund und ihr Schützling. Wie sie ihn mehr liebten als sich selber; er war das Band zwischen ihnen. Wie sein Talent ihre Verantwortung darstellte, ihr Geschenk an die Welt. Daß jeder Schaden, den man ihm zufügen würde, einem Vertrauensbruch gleichkomme.
Shamus hatte unterdessen seinen Bart unten viereckig zugestutzt, um wie ein Rabbi auszusehen.
»Toll fürs Alte Testament«, erklärte er und schrieb weiter.
In Abalone Crescent war Sandra von Cassidys Darstellung der Zustände in den Docks ungemein beeindruckt.
»Wann wird ihnen klarwerden, da es auf die Qualität des Lebens ankommt, nicht auf den Geldbetrag, den die Leute verdienen?« fragte sie.
»Himmel«, sagte Snaps. »Hört euch das an.«
»Trotzdem, Darling, Geld ist angenehm «, konterte Mrs. Groat, die seit neuestem den Arm in einer Schlinge trug mit der Begründung, daß er sie schmerze, wenn sie ihn
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