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Wachsam

Wachsam

Titel: Wachsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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und Enttäuschung. Warum hatte Hall sich einfangen lassen? Shamus würde ein Verbrechen begehen, um mit ihm zusammen zu sein. Das Gefängnis war der einzig richtige Ort zum Schreiben, und er kam wieder auf die altvertrauten Beispiele Dostojewskij und Voltaire zurück.
    Doch als die Wochen vergingen und Hall noch immer nicht frei war, hörte Shamus allmählich auf, von ihm zu sprechen. Er schien sich statt dessen in eine private Traumwelt zurückgezogen zu haben, aus der die erregten Berichte seines Eheweibs über ihre Abenteuer mit Cassidy ihn nicht mehr aufscheuchten. Doch er entfernte sich nicht von Hall; im Gegenteil, er rückte ihm näher, er entwickelte auf eine Art, die Cassidy nicht ganz begreifen konnte, eine innere Partnerschaft mit Hall, ein geheimes Bündnis sozusagen; verzehrte sich mit ihm beim Warten auf einen bestimmten Tag.
    Da er noch immer viele Stunden hintereinander im Gefängnis seines neuen Romans zubrachte, erwarb er sogar, wie Cassidys geschultes Auge feststellte, eine Art Gefängnisblässe und Gefängnishaltung, ein Füßeschleifen und Schulterhängen, hastiges Schlingen bei Tisch, eine dumpfe Unterwürfigkeit, wenn man ihn ansprach, und die Gewohnheit, ihnen mit ausdruckslosen, blicklosen Augen durchs ganze Zimmer zu folgen. Gelang es, ihn in eine Unterhaltung zu ziehen, so kam er ohne Zusammenhang auf Themen wie Sühne, Hybris und den Gesellschaftsvertrag zu sprechen oder auf die Treue zu selbstauferlegten Gesetzen. Und bei einer unseligen Gelegenheit ließ er einen höchst fatalen Vergleich zwischen der distinguierten Helen und Halls Vögelchen Sal fallen.
     
    Es passierte spät abends.
    Auf Cassidys Anregung hin waren sie im Kino gewesen – Shamus ging auch gern in ein richtiges Theater, hatte indes die Neigung, zu den Schauspielern hinaufzuschreien –, und sie hatten einen Western gesehen mit Paul Newman in der Hauptrolle, dessen Züge Helen unlängst mit denen Cassidys verglichen hatte. Auf dem Rückweg durch eine Anzahl Kneipen hatten sie einander wie gewöhnlich untergefaßt, Helen in der Mitte, als Shamus plötzlich Cassidys köstliche Wiedergabe der Schlüsselszene des Films mit einem Schrei unterbrach:
    »He, seht mal, dort ist Sal!«
    Seiner Blickrichtung folgend sahen sie auf der anderen Straßenseite eine Frau mittleren Alters allein an einer Ecke stehen, unter einer Laterne, in der klassischen Haltung einer Vorkriegsnutte. Sie war ärgerlich über das Aufsehen, warf ihnen einen bösen Blick zu, drehte sich um und trippelte ein paar lächerliche Schrittchen den Gehsteig entlang.
    »Unsinn«, sagte Helen. »Sie ist viel zu alt.«
    »Du vielleicht nicht, wie? Du hast auch deine Jährchen auf dem Buckel, oder?«
    Eine Weile sprach niemand. Um Sal nachzublicken, hatten sie haltgemacht und standen nun, noch immer Arm in Arm, vor einem Gebäude, das vermutlich das Chelsea-Krankenhaus war. Die Fenster waren erleuchtet und ohne Gardinen. Ein Bündel bleicher Schatten strahlte von ihren Füßen aus. Cassidy fühlte, wie Helens Arm in dem seinen steif und ihre bloße Hand kalt wurde.
    »Was, zum Teufel, soll das heißen?« fragte sie.
    »O Gott«, murmelte Shamus. »O Gott.«
    Er riß sich von ihnen los, lief in eine Seitenstraße und kehrte erst sehr spät und sehr blaß in die Wohnung zurück.
    »Verzeih, Lover, verzeih«, flüsterte er, und nachdem er Cassidy einen Gutenachtkuß gegeben hatte, legte er den Arm um Helen und geleitete sie zärtlich, ehrerbietig ins Schlafzimmer.
     
    Am nächsten Tag passierte die Sache beim Fußballspielen. Sie war für beide Männer entscheidend. Shamus war überarbeitet; die Abstinenz war zu weit gegangen.
     
    Als Ersatz für den ›Zusammenstoß‹ war Fußballspielen zu ihrem Lieblingssport geworden. Sie spielten zweimal in der Woche: dienstags und freitags. Es war eine feste Verabredung, immer um vier Uhr. Mit dem Glockenschlag rollte Cassidy die Hose bis zum Knie hoch, warf seine Jacke auf das blaue Bett, gab Helen einen Abschiedskuß und lief über die Straße, um das Tor zu besetzen. Wenig später kam Shamus im Leichenfrack die Eisentreppe herunter und nahm nach ein paar Übungen an der Schaukel seinen Posten als Stürmer oder Torwart ein, je nach Stimmung. Eine strenge Punktwertung wurde aufgestellt, und Shamus verwahrte sämtliche Ergebnisse in einer Lade seines Schreibtisches, einschließlich Diagrammen von besonders gelungenen Manövern. Er sprach sogar davon, ein Buch über methodischen Fußball zu veröffentlichen; er wolle mit Dale

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