Wachsam
Cassidy. »Kommt nicht in Frage«, und schloß die Augen aufs neue.
Der Kuß schien von fern her zu kommen. Er begann weit flußauf, zwischen den schwarzen Stahlwäldern des East India Dock, tippte an die straff gespannten Brücken des Embankment, streifte über die glatte Fläche der Flut, während er noch breiter, heller und kühner erglühte; bis er, teils Hitze, teils Flüssigkeit, teils Licht, die vierzehn starren Stockwerke des Savoy erklomm und schließlich vor Anker ging in den entflammten Binnenbereichen von Aldo Cassidy und seines Nächsten Weib.
»Cassidy«, sagte Helen ernst, »loslassen«, und schob ihn weg, widmete sich der häuslichen Aufgabe, das Bett in Ordnung zu bringen, während Cassidy ins Badezimmer ging, für den Fall, daß er Lippenstift abbekommen hätte.
»Ich möchte wirklich eine Hure sein«, bemerkte sie und klopfte die Kissen zurecht. »Ich würde verdammt bessere Arbeit leisten als Sal, wetten. Warum kann ich keine Hure sein? Mir gefällt dieses Hotel, Cassidy. Mir gefällt das Essen, mir gefällt der Drink und mir gefallen die Leute. Sehr sogar. Und ich habe einen prima Körper. Kräftig, geschickt, beweglich. Warum also nicht?«
»Weil Sie ihn lieben«, sagte Cassidy.
»Hindert ihn nicht, wie? Er hurt herum. Er verführt die Leute, er sext sich durch ganz Europa. Warum also nicht ich?«
»Ich seh’ mal nach, wie es ihm geht«, sagte Cassidy. »Dann können wir vielleicht heimgehen.«
Er war wieder im Schlafzimmer, aber strikt auf der Durchreise, strebte auf den Salon und den sicheren Hort zu, als Helen zu seinem Entsetzen plötzlich einen Luftsprung tat und mit allen vieren auf dem Bett landete.
»Scheiß auf ihn«, erklärte sie mit äußerster Erbitterung und zog sich die Haare über die Augen, »ich, Helen, scheiß auf Shamus. Scheiß, scheiß, scheiß. Er ist ein Reaktionär, merkt ihr das nicht? Ein viktorianischer Sabbergreis. Zweierlei Gesetz: eins für ihn, eins für uns. Shamus hat uns geneppt , Cassidy. Shamus hat die größte Schau abgezogen seit … seit der letzten größten Schau, die jemand abgezogen hat. Shamus haßt Konventionen. So lautet die Botschaft. Aber wir dürfen’s nicht. O nein. Wir müssen uns daran halten. Ich bin hungrig«, fügte sie hinzu und strich ihr Haar glatt. »Unser Dinner hat er auch verdorben. Unser Dinner, Cassidy, und ist noch darauf herumgetrampelt.«
»Shamus«, keuchte Cassidy, der vor der Leiche auf den Knien lag, »wach auf. Bitte wach auf.« Und schüttelte ihn, außerhalb ihrer Reichweite, aus Leibeskräften.
»Die Schuppen«, verkündete Helen aus dem Schlafzimmer, »sind mir von den Augen gefallen. Aufstand einer einzelnen Person, das bin ich. Seine Freiheit für die meine, egal, was danach kommt.«
»Shamus«, flehte Cassidy, »um Gottes willen. Wir brauchen dich.« Doch Shamus wollte nicht aufwachen. Er lag auf dem Bauch und war für die Welt gestorben. Die Decke war zu Boden gefallen, und sein nackter Rücken war glitschig vor Schweiß.
»Cassidy«, rief Helen. »Stimmt das? Treiben es die schlimmen Damen wirklich mit den Zimmerkellnern? Legen sich einfach hin, wenn ihre Horlicks hereinkommen, und lassen ihre Reize durch spinnwebdünne Nachtgewänder schimmern?«
»Geben Sie mir ein Handtuch«, sagte Cassidy. »Und hören Sie auf. Lover , hör doch , wir müssen unbedingt gehen .«
Ein feuchtes Handtuch klatschte zu seinen Füßen auf den Boden.
»Höre, ich habe alles für dich getan … alles Mögliche. Ich habe dich aus dem Rinnstein gezogen, oder? Dich ausgekleidet, dich eingekleidet, gefüttert, deine Kotze aufgewischt … Ich glaube an dich. Shamus, du bist es mir schuldig … Wach auf!«
»Kühn«, sagte Helen noch immer aus dem Schlafzimmer. »Das waren Sie heute abend. Kühn, schneidig und resolut. Tapfer , Cassidy. Sie haben die Situation gemeistert . Ich bewundere einen Mann, der Situationen meistert. Guten Abend «, sprach sie ins Telefon weiter. »Hier ist Suite vierzehn achtunddreißig. Wäre es wohl möglich, daß Sie etwas zu essen heraufschicken, irgendeinen kleinen Imbiß? Zwei Filetsteaks, eine Flasche …« Es ging endlos so weiter, genug, um eine Woche lang durchzuhalten.
»Bestellen Sie nichts für mich«, rief Cassidy. »Ich möchte nichts. Shamus .« Er drehte ihn um, legte ihm das kalte Handtuch aufs Gesicht und preßte es kräftig auf die Stirn, auf die Wangen.
»Sie haben nicht zufällig ein paar Frösche , wie?« erkundigte Helen sich. »Nicht zum Essen, zum Knallen
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