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Wachsam

Wachsam

Titel: Wachsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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reisen immer erster Klasse. Jenseits des Fensters stieß plötzlich eine Gruppe Haverdownscher Nadelbäume aus dem Nebel; darunter stand eine trübselige Pagode, dunkelbraun lackiert und von altem Schnee bestäubt.
    »Unterwald«, las er laut. Noch zwei Stationen.
    Und betrachtete sich, wie er im Umkleideraum saß und rauchte, um den Geruch zu betäuben; betrachtete das alternde Gesicht eines Zehnjährigen am Ende eines langen Kampftages.
     
    Mark.
    Ein Junge mit kontinentalem Einschlag, dieser Cassidy, vertrauensvoll und leicht gerührt; faßte die Leute gern an, wenn er mit ihnen sprach; Mark, mein Lover.
    »Wenn ich Torwart wäre«, murmelte Mark und knotete mit tauben Fingern seine Stiefel auf, »könnte ich Handschuhe tragen.«
    »Du hast dich gut gehalten«, sagte Cassidy und half ihm.
    Das Wiedersehen nach so langer Zeit zeigte Cassidy, wie klein der Junge war, wie zart seine Gelenke. Die anderen Jungen schauten verächtlich zu und versuchten, die Aussage des Verräters wörtlich mitzubekommen.
    »Ich hasse Fußball. Warum muß ich unbedingt spielen, wenn ich es hasse? Warum kann ich nicht etwas Ruhigeres tun?«
    »Ich hab’s auch gehaßt«, sagte Cassidy, um ihn zu ermutigen, »immer, Ehrenwort. An jeder Schule, in die ich ging.«
    »Warum läßt du es mich dann tun?«
    Als er seinem nackten Sohn in den Duschraum folgte, dachte Cassidy: ›Nur der Geruch ist warm.‹ Der säuerliche Mief von Fußballtrikots und Somersetdreck und Drillichanzügen, die in der Sonne von morgen trocknen. Mark war viel dünner als die anderen Kinder, und seine Genitalien waren weniger entwickelt; kalt und verschrumpelt, ein sehr mattes Geschlecht. Die Jungen drängten sich, kahlrasierte Sträflinge, das ganze Team unter einem schäbigen Wasserstrahl.
     
    »Mummy sagt, sie hat mir nicht genug Liebe gegeben«, sagte Mark beim Tee im Spinnrad .
    »Das ist nur ein Unsinn, den sie von Heather hat«, sagte Cassidy. Der Junge aß schweigend.
    »Ich fahre in die Schweiz«, sagte Cassidy.
    »Mit Heather?«
    »Allein.«
    »Warum?«
    »Ich dachte, ich will versuchen, ein Buch zu schreiben«, sagte Cassidy aufs Geratewohl.
    »Wie lang bleibst du dort?«
    »Paar Wochen.«
    »Nach Mummy hab’ ich nicht Zeitlang. Ich hab’ nach dir Zeitlang.«
    »Du hast nach uns beiden Zeitlang«, sagte Cassidy.
    »Was soll’s denn sein«, fragte Mark plötzlich, als ob er bereits wüßte, einen Verdacht hätte.
    »Was?«
    »Das Buch.«
    »Es ist ein Roman.«
    »Ist das eine Geschichte?«
    »Ja.«
    »Erzähl sie mir.«
    »Du kannst sie lesen, wenn du groß bist.«
    Im Teesalon gab es selbstgemachte Süßigkeiten, Zuckerwatte und Schokolade mit verschiedenen Füllungen. Cassidy gab ihm zehn Shilling, damit er sich selbst etwas kaufen könne. »Das ist meilenweit zuviel«, sagte Mark hoffnungslos und gab ihm fünf zurück.
    Der Junge wartete am Tor, eine schmale, sich wiegende Gestalt, er schlug die Arme um den grauen Pullover, während er den warmen Bentley die Auffahrt entlang auf sich zugleiten sah. Cassidy ließ das elektrisch gesteuerte Fenster herab, und Mark küßte ihn, die dünnen Lippen lagen voll auf denen des Vaters, noch voller Krümel vom Teesalon und kalt vom Warten in der Abendluft.
    »Ich bin einfach nicht geeignet für diese Art Erziehung«, erklärte Mark. »Ich bin kein harter Bursche, und davon, daß sie mich hunzen, wird’s auch nicht besser.«
    »Ich war auch nicht dafür geeignet.«
    »Dann nimm mich weg von hier. Es hat keinen Sinn.«
    Mark hat nur ein gewisses Maß an Mut, dachte er; ich brauche es auch für ihn, gebe es aus, ehe er alt genug ist, es selber auszugeben. »Da, nimm«, sagte er und gab ihm seinen goldenen Stift, sechzig Pfund bei Asprey, ein privater Luxus aus einem anderen Leben. »Womit willst du dann schreiben?«
    »Ach, mit einer Feder oder so«, sagte Cassidy und ließ ihn am Tor stehen, wo er die Miene hinein- und herausspringen ließ, den blonden Kopf in tiefer Konzentration gesenkt.
     
    Manchmal war es für mich viel zu schwer zu ertragen, dieses Gesicht, dachte Cassidy, während er auf ein totes Leben zurückblickte; es war zu langgezogen vom Kummer, zu vergilbt vom Schmerz und der Mühe des Verstehenwollens. Deshalb schenkte ich ihm Dinge, damit er sein Gesicht von mir abwandte: Gold oder Geld oder irgend etwas sehr Kleines, wonach er sich bücken mußte.
     
    Oder vielleicht, dachte Cassidy beschwichtigend und wischte die Tränen vom Fenster, vielleicht war es überhaupt nicht Mark.
    Vielleicht – denn

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