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Wachsam

Wachsam

Titel: Wachsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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Cassidy hatte das häßliche Gefühl, besonders kurz vor den Mahlzeiten, daß er vielleicht schon tot sein könne. Auf der weißen Mattscheibe des Fensters zog, während er gleichgültig emporgetragen wurde, ein ungeordnetes Aufgebot von Visionen vor seinem weitgehend unkritischen Auge vorbei. Diese Bilder waren sein Denken; das Gedächtnis war ihm keine Hilfe mehr, es hatte sich seinen Ängsten zugesellt. Ich lebe außerhalb meiner eigenen Erfahrung, dachte er; ich beobachte sie durch dieses Fenster. Ein Waggon namens Cassidy, von leeren Sitzen bevölkert. Draußen hegt die Wüste, mein Schicksal. Aufgepaßt. Ha!
    Er setzt sich ruckartig auf. Wer ist das? Marks Schuldirektor, er trägt ein Gewehr Kaliber vier, wasserdichte Militärstiefel über seinem gräßlichen Anzug, eine russische Kosakenmütze über das hohlwangige Gesicht geklappt, watschelt durch den eisigen Nebel. Die Regentropfen rinnen an ihm herab wie an einem Kriegerdenkmal, umkreisen seine Zelotenaugen und waschen hellere Streifen in die Haut des Bronzekämpfers. Du hast auch mich schon unterrichtet, schrie Cassidy, und schon damals warst du nicht einen Tag jünger!
     
    »Die Marazions sind ein zäher Haufen. Immer gewesen. Schade, daß Ihr Junge nicht spielt.«
    »Er spielt sehr wohl«, sagte Cassidy, dem diese Verwechslungen vertraut waren. »Ich bin Cassidy, Marks Junge«, erklärte er. Vater, hatte er sagen wollen, er hatte sich nur versprochen.
    Hier Schnee, dort Regen, Kampfregen, der in richtungslosen, eisigen Wolken über den Fußballplatz rollte, nicht fiel, sondern einhüllte. Nur die nächsten Spieler sind sichtbar, sie schwanken und tasten unter dem Gasangriff. Eine neunzehnhundertsechzehner Trillerpfeife schrillt; Gasmasken auf, die boches kommen über den Hügel; Hände auf die Schultern des Vordermannes, schnell, Jungens, und mir nach.
    » Denken , Saviours , denken !« bellte der Schuldirektor. »Schaut euch diesen Idioten Meadows an. Meadows, du bist ein Idiot, ein Kretin, hörst du? Ein Dummkopf. Sie sind nicht Meadows, wie?« fragte der Schuldirektor.
    »Nein«, sagte Cassidy. »Ich bin Cassidy. Marks Vater.«
    Ein fettes Kind in einem dreckverkrusteten Hemd trat wild nach einem durchnäßten Fußball.
    »Verzeihung, Sir«, flüsterte er und stirbt für seinen Oberst, bricht zusammen, Herzschuß.
    »Halten« brüllt der Schuldirektor in nicht geheuchelter Raserei. »Du heiliger Strohsack, gütiger Gott, nicht schießen, halten! O mein Gott, mein Gott, o Gott.«
    Von irgendwoher ertönte wieder der Gasalarm, und ein spärlicher Ausbruch von Applaus klatschte sich triefend tot.
    »War es ein Tor?« fragte Cassidy und schraubte den Kopf herum, um Begeisterung zu zeigen, als ein Regenrinnsal über sein Schlüsselbein rann. »Es ist kaum zu sehen.«
    Eine Weile war ein gequältes Keuchen die einzige Antwort.
    »Ich sag’s ihnen immer wieder«, flüstert der Schuldirektor und wendet sich ihm im Schmerz der Niederlage mit aufgerissenen Augen zu. »Sie begreifen es nicht, aber ich sage es ihnen immer wieder. Ohne Gott kann man nicht gewinnen. Schlußmann, Schiedsrichter, Ersatzspieler, ER ist alles zugleich. Natürlich begreifen sie das nicht. Aber eines Tages wird es ihnen aufgehen, ganz bestimmt. Glauben Sie nicht auch?«
    »Ich glaubte Ihnen«, versicherte Cassidy ihm. »Damals sagten Sie das gleiche zu mir, und ich glaubte Ihnen. Hören Sie, ich bin Cassidy, Marks Vater, könnte ich wohl einen Augenblick mit Ihnen über meinen Sohn sprechen?«
    Doch der Schulmeister zetert bereits wieder hoffnungslos um Gottes Beistand, als aus dem Nebel wiederum das unheilvolle Klatschen kalter nasser Hände kommt.
    »Wer war das? Wer hat ihn direkt der Stürmerreihe vor die Füße geschickt? Wer war es?«
    »Cassidy«, sagte jemand.
    »Es kommt nur daher, daß er kleiner ist als die anderen«, sagte Cassidy. »Wenn er größer ist, wird er ihn richtig treten, ganz bestimmt. Hören Sie, ich verreise auf ein Weilchen, ob ich ihn wohl zum Tee mitnehmen dürfte?«
    » Hart am Ball bleiben! Angreifen, Saviours , angreifen! Ihr Flaschen! Oh ihr dummen kleinen Affen.«
    Wiederum wandten die tiefliegenden Augen sich Cassidy zu und forschten vergeblich an ihm nach göttlichen Zügen.
    »Schicken Sie ihn nach Bryanstone«, riet er schließlich. »Erstklassig für Kinder aus gescheiterten Ehen, erstklassig.«
    Und der Direktor kehrte ihm den hohen schmalen Rücken zu und verlor sich im Nebel.
     
    Und wir Cassidys, das ist eine Maxime in unserer Familie, wir

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