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Wachsam

Wachsam

Titel: Wachsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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Weltreich vereinte, hatte eine letzte Enklave in diesem kleinen und schönen Felsennest gefunden. Das Dorf Sainte-Angèle war der letzte Markstein der administrativen Größe Englands, der Herrenrasse von Verwaltern und Kaufleuten. Sie kamen jedes Jahr hierher, um es zu besitzen und falsch auszusprechen; und Zug um Zug hatten sie Cassidy ihren Reihen einverleibt. Nicht auf einmal und niemals laut. Cassidys Sehnsucht nach Stille, seine unenglische Achtung vor den Ortsbewohnern, sein offenkundiger Wunsch, Kontroversen zu vermeiden, dies alles erforderte, daß seine Funktion untergeordneter Art sei; und das war sie auch. Auf den gedruckten Listen der Amtsträger, bei der Bekanntgabe der jährlichen Auszeichnungen und Ehrenpreise erschien sein Name entweder überhaupt nicht oder eingeschränkt durch modifizierende Ergänzungen: stellvertretend , amtierend , ehrenhalber . Bei den Senatsabenden am Dienstag, den Ratsabenden am Mittwoch, den Präsidialsitzungen am Donnerstag, den Zusammenkünften am Samstag, in der Anglikanischen Kirche am Sonntag, blieb sein Einfluß weitgehend unbemerkt. Nur wenn eine wichtige Entscheidung anstand – die Anwerbung eines neuen Mitglieds, die Erhöhung des Annoncenanteils in der Clubzeitschrift oder der Erwerb eines neuen Möbelstückes für den elegant vergammelnden Klubraum –, wand sich, der Kälte wegen dick eingemummelt, ein kleines nächtliches Trüppchen von Kabinettsministern nebst Gefolge den schmalen Pfad hinan zum Cassidyschen Chalet, an die Quelle von Punsch und Erleuchtung.
    »Er ist so schrecklich großzügig«, sagten sie, »und ein so gutes Ausschußmitglied.« Viele waren Damen. »Er ist so reich «, sagten sie und sprachen von hohen Beiträgen in Schweizer Franken.
    In den Tea-rooms und Nachmittagstanzdielen, in der kleinen Gruppe, die sich nach einem Skilauftag um die englische Angschlagtafel drängte, wurde seine alpinistische Kühnheit ehrfürchtig bewundert. Ein Renaissancemensch sagten sie; ein homo universalis aller Arten von Bergsport; er hatte das Matterhorn im Winter bestiegen; er hatte in Val d’Isère das Quatre Pistes gewonnen; er hatte den Bob-sleigh-Rekord in Sankt Moritz eingestellt, im Smoking an einem Nachtspringen teilgenommen und sämtliche Schweizer geschlagen. Diese Taten waren nicht offiziell registriert, und Cassidy selber war zu bescheiden, um sie einzugestehen. Doch Bescheidenheit hin und her, im Lauf der Jahre war er zu einem kleinen Denkmal ihrer kollektiven Größe geworden. Und wenn er den Sockel nicht aus eigenem Antrieb bestiegen hatte, so sah er auch bislang keinen Grund, wieder herabzusteigen.
     
    So also war es bis dato um Cassidys Hafen im fremden Land bestellt. Die leichte Luft der Berge konservierte auf großen Höhen und bei niedrigen Temperaturen viele der harmlosen Visionen, die seine aufwärtsstrebende englische Seele barg; ein Extraleben, seinem englischen Pedant nicht unähnlich, aber unschuldig geworden durch die Weite der Landschaft, die es umschloß. Und doch fand Cassidy, im letzten Abteil des Schmalspurbähnchens zusammengekauert, an jenem kalten leeren Morgen eines namenlosen, sonnenlosen Monats, in der Aussicht, sein höheres Ich zu besuchen, weder Freude noch Trost.
    Draußen war die Landschaft weiß und fad. Was nicht weiß war, war schwarz oder von Wolken und Wehen sandartigen Schnees gekalkt, der gegen das undichte Fenster neben ihm peitschte. Der Nebel hatte alle Farbe aus den Bergen gesogen; und etwas hatte auch Cassidy ausgesogen, blaß gemacht, den Rest von Optimismus angegriffen, der sich in seinen Zügen noch immer gehalten hatte. Er stieg bergan, weil er getragen wurde, aber sein Körper war bewegungslos, in komplementären Grautönen vor die hohe weiße Wüste des Himmels und der Hügel hingeworfen. Von Zeit zu Zeit intonierte er, als gehorchte er einem unhörbaren Befehl, ein paar Takte und senkte die Augen, runzelte die Stirn, wenn er sich dabei ertappte. Er trug Handschuhe; sein Eisenbahnbillett steckte in der linken Handfläche, eine alte Gewohnheit, die er von einer seiner Mütter bei Busfahrten in Küstenstädten übernommen hatte. Er hatte sich schon früh rasiert, wahrscheinlich kurz vor Bern, und er fand, daß er nach den Viel-zu-vielen anderen Leuten rieche, die den gleichen Nachtzug aus Ostende benutzt hatten.

34
    Wo war er gewesen, für wie lange, wann?
    Diese Fragen hatten ihn während der ganzen Reise immer wieder beschäftigt. Sie waren keine fixe Idee, doch vieles blieb zu entwirren, und

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