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Wachsam

Wachsam

Titel: Wachsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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Schweizerin gewesen sei. Die Berge von Saint-Angèle waren selbst an einem wunderschönen Nachmittag furchteinflößend; doch sie waren auch ein Schild, ein Stück Natur, das zwischen ihm und seinen Mitmenschen aufragte und ihn an die weitergespannten Bindungen seines Herzens gemahnte.
    Die Gespräche, die er anderntags mit einheimischen Fachleuten führte, Bankdirektoren, Anwälten und so weiter, eröffneten ihm eine weitere außerordentliche Eigenschaft der Bergwelt. Die Schweizer verehrten wirtschaftlichen Erfolg! Sie bewunderte ihn; betrachteten ihn als wichtigstes Attribut eines Gentleman; ja, seltsamer noch, sie hielten Reichtum nicht nur für verzeihlich, sondern für erstrebenswert, sogar für moralisch. In ihrem klar blickenden Auge war der Erwerb von Reichtum eine soziale Verpflichtung gegenüber einer unterkapitalisierten Welt. Für die Schweizer war ein reicher Cassidy entschieden bewundernswerter als ein armer Cassidy, eine Ansicht, die in seinen eigenen englischen Kreisen wenig Sympathie und viel Spott erntete.
    Verdutzt beschloß er, unter dem Vorwand aufgetretener Komplikationen, noch das Wochenende zu bleiben. Er mietete Zimmer im Angèle-Kulm , da das Chalet noch nicht bezugsfertig war. Und machte bei seinem Alleingang weitere aufregende Entdeckungen. Daß sein Vater keine Hotels in Sainte-Angèle besaß und keinen Penthouseadlerhorst hoch über der Eisstockbahn. Daß es in Sainte-Angèle keine Wermutbrüder gab, die einem reichen Mann im Magen lagen, daß der Wohnraum des Chalets nicht groß genug für einen Flügel war. Daß ein Mann in Sainte-Angèle um seinen sozialen Status weiter nicht besorgt zu sein brauchte, solange er seine Rechnungen bezahlte und dem Lieferjungen Trinkgelder gab; denn von Stund an kannte, grüßte und begrüßte man ihn als einen Menschen, der die Tradition des englischen Touristen hochhielt, als einen Schutzpatron der Alpen, der Bartlettdrucke sammelte und an die Zeiten des weltweiten Empire erinnerte.
    Daher vermietete Cassidy das Haus nicht, wie er ursprünglich beabsichtigt hatte – ein kleines steuerfreies Einkommen auf dem Kontinent konnte nie schaden –, sondern ließ es leer. Bis er am Dienstag wieder abreiste, hatte er fleißige Zimmerleute angewiesen, süßduftende Fichtenschränke in den Schlafzimmern einzubauen; hatte Möbel aus Bern und Leinen aus Interlaken gekauft; eine Haushälterin engagiert und Namensschilder an den Türen angebracht, hier Marks Zimmer, dort Hugos. Und von diesem Tag an hatte er jeden Winter und jeden Frühling, wenn Sandra es erlaubte, seine Familie hierhergebracht und war mit den Kindern beim Abendcorso die Hauptstraße entlangspaziert und hatte ihnen Pelzstiefel und fondue gekauft. Sandra war zuerst nicht gern mitgegangen; die Schweiz sei ein Spielplatz für Millionäre, die Frauen hätten kein Stimmrecht. Doch langsam hatten sie auf dem neutralen Boden ein Abkommen zu vorübergehender Koexistenz geschlossen. Er stellte fest, daß in Sainte-Angèle, wo sie ihn weitgehend für sich allein hatte, das Leid der Welt für Sandra entschieden weniger drückend war; außerdem verschönte die Kälte ihr Gesicht, sie konnte es im Spiegel sehen.
     
    Im Grunde – Cassidy hatte allerdings ein paar Jahre gebraucht, um es zu entdecken – war Sainte-Angèle englisch. Von einer englischen Exilregierung verwaltet. Mit einem englischen Kabinett, das sich hauptsächlich aus der Gegend um Gerrards Cross rekrutierte, einer Regierung, die sowohl Legislative wie Exekutive umfaßte und sich täglich an einem reservierten Tisch im populärsten Lokal traf, sich als Club bezeichnete und über die Unhöflichkeit der Eingeborenen und den steigenden Kurswert des Franken lamentierte. Dem Geist nach war es eine Militärregierung, kolonialistisch, imperialistisch, selbst ernannt. Ihre Veteranen trugen Kriegsauszeichnungen und Verdienstkreuze; die Jüngeren Uniformpullover englischer Regimenter. Diese Leute trafen Entscheidungen von immenser Tragweite. Gewiß, die Regierten waren sich nicht immer des Vorhandenseins ihrer Regierung bewußt; gewiß, die guten Schweizer gingen weiterhin ihrem Tagewerk nach in der süßen Illusion, daß sie ihre Gemeinde selber verwalteten und daß die Engländer nur Touristen seien wie alle anderen, nur ein bißchen lauter und weniger begütert. Doch die Geschichte hatte es bereits aufgeschrieben, für alle, die Augen hatten, es zu sehen: Die Geschicklichkeit und Macht, die einst ganz Indien, Afrika und Nordamerika zu einem einzigen

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