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Wachsam

Wachsam

Titel: Wachsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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entwickelt, sagte sie, die er in seinem jüngsten Buch verarbeitet habe. Sie stütze sich auf einen Menschen namens Schiller, einen schrecklich berühmten deutschen Dramatiker, aber da die Engländer nun einmal so insular seien, hätten sie nie von ihm gehört, und wie dem auch sei, Schiller habe die Welt in zwei Teile gespalten.
    »Man ist entweder naiv «, sagte sie, »oder sentimentalisch . Es sind zwei verschiedene Dinge, und sie stehen in einer Wechselbeziehung.«
    Cassidy wußte, daß sie es möglichst einfach ausdrückte, damit er es verstehen könne.
    »Wozu gehöre ich?« fragte er.
    »Also, Shamus ist naiv «, erwiderte sie vorsichtig, als erinnerte sie sich einer mühsam gelernten Lektion, »weil er das Leben lebt und nicht imitiert. Fühlen ist Wissen«, fügte sie versuchsweise hinzu.
    »Also bin ich das andere.«
    »Ja. Sie sind sentimental . Das bedeutet, sie möchten gern sein wie Shamus. Sie haben den natürlichen Zustand hinter sich gelassen und wurden … nun, ein Teil der Zivilisation, sozusagen … verdorben.«
    »Und er ist das nicht?«
    »Nein«, sagte Helen entschieden.
    »Oh«, sagte Cassidy.
    »Sie haben das verloren, was Nietzsche die Unschuld nennt. Das Alte Testament ist schrecklich unschuldig, wissen Sie. Aber das Neue Testament ist durch und durch korrupt und Wischiwaschi, und darum hassen es Nietzsche und Shamus, und darum ist Flaherty ein so wichtiges Symbol. Man muß in Frage stellen .«
    »Was in Frage stellen?«
    »Übereinkunft, Moral, Verhaltensweisen, das Leben, Gott. Oh, ich meine alles. Ganz einfach alles. Flaherty ist wichtig, weil er bestreitet . Deshalb hat Shamus ihn zum Duell gefordert, verstehen Sie jetzt? «
    »Sagt Schiller das alles?« fragte Cassidy nochmals und jetzt völlig verwirrt. »Oder der andere?«
    »Und Shamus«, fuhr Helen fort und ignorierte seine Frage, »da er naiv ist , also ein Teil der Natur, möchte er gern so sein wie Sie . Es ist die Anziehungskraft der Gegensätze. Er ist natürlich, Sie sind verdorben. Deshalb liebt er Sie.«
    »Wirklich?«
    »Ich weiß es«, sagte Helen schlicht. »Sie haben eine Eroberung gemacht, Cassidy, daran gibt’s nichts zu rütteln.«
    »Und wie ist das dann mit Ihnen?« forschte Cassidy, dem es nur teilweise gelang, seine Genugtuung zu verbergen. »Zu welcher Seite gehören Sie? Zu Shamus oder zu mir?«
    »Ich glaube nicht, daß es auf Frauen anwendbar ist«, erwiderte Helen nach einer Weile. »Ich glaube, sie sind ganz einfach sie selber.«
    »Frauen sind ewig«, bestätigte Cassidy, als sie endlich aufbrachen.
     
    Dafür erzählte er ihr später in der Kneipe von seinen Zubehörteilen. Rückblickend hätte allein schon dieses Gespräch ihm den Abend unvergeßlich gemacht.
    Selbst wenn er Helen noch nie gesehen hätte, ehe er die Bar betrat; selbst wenn er sie nie wieder gesehen hätte, nachdem er sie verließ, wenn er ihr nur einen doppelten Whisky bestellt und im Garten mit ihr geplaudert hätte, so hätte er seinen Aufenthalt in Bath – diese zehn Minuten, die eine Unendlichkeit darstellten – zu den erstaunlichsten Erfahrungen seines Lebens gezählt.
    Die Kneipe lag ein Stück hügelan – der Spannungshang, wie Cassidy es nun für sich nannte –, eine belaubte Anlage mit einer Veranda und einem weiten Blick auf die Lichter des Tals. Die Lichter reichten bis an den Rand der Welt, wo sie in einen tiefen Golddunst zerflossen, ehe sie mit den herabhängenden Sternen eins wurden. Shamus war stracks in das Lokal marschiert und spielte nun mit den naiven Klassen Domino, und die beiden anderen saßen draußen und blickten mit wissensweiten Augen in die Nacht, teilten stumm den unendlichen Ausblick. Und eine Sekunde lang schien es Cassidy, daß eine Art Ehebund geschlossen worden sei. Eine Sekunde lang, das hätte er geschworen, ehe noch eines von ihnen ein Wort gesprochen hatte, entdeckten Cassidy und Helen insgeheim in der regungslosen Nachtluft ein Zusammenfließen ihrer Geschicke und ihrer Sehnsüchte, ihrer Träume und ihrer Wonnen. Dieses Gefühl war sogar so ausgeprägt, daß er sich ihr zugewandt hatte in der Hoffnung, in ihrem hingegebenen Ausdruck einen Beweis für das gemeinsame Erleben zu erhaschen, als ein Schwall derben Gelächters, der aus der Kneipe brach, sie an ihren Gefährten erinnerte.
    »Shamus«, seufzte Helen, aber nicht tadelnd. »Er hat so gern ein Publikum. Wie wir alle, nicht wahr? Im Grunde nur die Wärme menschlichen Kontakts, wenn man’s bedenkt.«
    »Wahrscheinlich, im Grunde«, sagte

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