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Wachsam

Wachsam

Titel: Wachsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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Cassidy, der bis dato nie auf die Idee gekommen wäre, daß es für auffälliges Benehmen eine Entschuldigung geben könne.
    »Seit ich ihn kenne«, sagte sie verträumt, »war er immer der perfekte Bezauberer. Als wir reich waren, war es das Hausmädchen, die Tankwarte, der Milchmann. Und als wir beschlossen, wieder arm zu sein, war es … einfach jeder. Proleten, Gerrards Crossers, er schlägt alle in seinen Bann. Das ist das Allernetteste an ihm.«
    »Aber immer sind Sic es gewesen«, gab Cassidy zu bedenken. »Reich oder arm, immer waren Sie sein wahres Publikum, nicht wahr, Helen?«
    Sie akzeptierte diese Vorstellung nicht sofort, sondern schien darüber nachzusinnen, als wäre sie neu und vielleicht eine Spur zu seicht für ihre tiefschürfende Art.
    »Nicht immer. Nein. Nur manchmal. Manchmal war ich es. Anfangs vielleicht.« Sie nahm einen kräftigen Schluck. »Anfangs«, wiederholte sie tapfer.
    »Aber Sie müssen ihm enorm bei seiner Arbeit helfen«, sagte Cassidy. »Stützt er sich nicht gewaltig auf Sie, auf Ihr Wissen, Helen? Auf Ihre Bildung? «
    »Ein bißchen«, sagte Helen in dem gleichen unverbindlichen Ton. »Dann und wann schon.«
    »Sagen Sie: Was haben Sie in Oxford studiert? Ich wette, Sie haben jede Menge akademische Grade.«
    »Sprechen wir lieber von Ihnen«, schlug Helen bescheiden vor.
    »Ja?«
    Und so passierte es.
     
    Zunächst hatte er mit voller Überlegung den menschlichen Aspekt seiner Fabrikate herausgestellt, den mother appeal , wie sie es in der Branche nannten. Schließlich hatte sie wirklich keinen Grund, sich für die technische Seite zu interessieren: Das tat keiner seiner weiblichen Kunden. C-Federung, Aufhängung, Arretiermechanismus: Genausogut könnte man einer Frau alles über Pfeifentabak erzählen. So hatte er damit angefangen, ihr in schlichten erzählenden, wenn auch nicht fachgerechten Ausdrücken zu berichten, wie ihm zum erstenmal die Idee gekommen war. Er hatte an einem Samstagvormittag einen Spaziergang gemacht, in jenen Tagen, als Spaziergänge ungefähr die einzige Erholung waren, die er sich leisten konnte – er hatte gerade in der Werbebranche begonnen, obwohl er schon immer gern über den Zaun geguckt habe, wenn sie wisse, was er damit meine, Bastler sozusagen, geschickt mit dem Schraubenzieher, wenn sie ihm folgen könne –, und er überlegte sich gerade, ob er vor dem Lunch etwas trinken solle (»Vielen Dank«, sagte Helen, »nur einen einfachen, wäre herrlich«), als er sah, wie eine Mutter versuchte, die Fahrbahn zu überqueren.
    »Eine junge Mutter«, verbesserte Helen.
    »Woher wissen Sie das?«
    »Ich habe nur geraten.«
    Cassidy lächelte ein bißchen verschämt. »Ja, Sie haben recht«, gestand er. »Sie war wirklich jung.«
    »Und hübsch«, sagte Helen. »Eine hübsche Mutter.«
    »Großer Gott, wie konnten Sie –.«
    »Weiter«, sagte Helen.
    Also natürlich, sagte Cassidy, habe es damals noch keine Zebrastreifen gegeben, nur die genagelten Übergänge mit den Blinklichtern an beiden Enden, und der Fahrzeugstrom sei praktisch nicht abgerissen.
    »Also hat sie sich einfach hineingeworfen.«
    »Mitsamt dem Kinderwagen«, sagte Helen sofort.
    »Ja. Genau. Sie stand am Bordstein und tauchte gewissermaßen probehalber einen Fuß ins Wasser, fuhr den Wagen mit dem Baby hinunter auf die Fahrbahn und zog ihn wieder hoch, während sie wartete, bis der Verkehr stockte. Und zwischen diesem Kind und den Fahrzeugen war weiter nichts als diese … diese eine Fußbremse . Nur eine spindige Stange mit einem Gummigriff am Ende«, sagte er und meinte noch immer die Fußbremse.
    »Spindig?« wiederholte Helen, der dieses Wort unvertraut war.
    »Mindere Legierung«, erwiderte Cassidy. »Praktisch kein Zugwiderstand. Metallbeanspruchungsfaktor Null.«
    »O mein Gott«, sagte Helen.
    »Genau das dachte ich auch.«
    »Ich meine, Herrgott noch mal, man kann sich selber in Gefahr bringen, wenn’s sein muß, aber doch nicht, zum Teufel, nicht ein Kind.«
    »Sie haben völlig recht. Genau was ich sage, ich war entsetzt.«
    »Sie fühlten sich verantwortlich«, sagte Helen ernst.
    Ja, genau das war es gewesen. Noch nie hatte es ihm jemand so erklärt, aber es stimmte: Er hatte sich verantwortlich gefühlt. Also genehmigte er sich kein Glas, sondern ging nach Hause und stellte Überlegungen an. Verantwortliche Überlegungen.
    »Wo war das Zuhause?« fragte Helen.
    »Ach herrje«, sagte Cassidy und deutete damit lange Wege und geheime Mühen an. »Wo war damals irgend

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