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Wachsam

Wachsam

Titel: Wachsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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saß allein unter einem Kerzenleuchter und trug Sandras Silberkleid vom Maitanz in Oxford. Sie hatte irgendein flambé bestellt, das Obst und einiges an Spirituosen erforderte. Zwei junge Kellner bedienten sie unter dem Auge des maître d’hôtel von einem Servierwagen.
    »Christus hat niemals von uns gesprochen, oder?« bemerkte er plötzlich. »Kein Wort im gesamten Manifest. Wir sind nur da, um den Spielstand festzuhalten.«
    In seiner Überraschung stotterte Cassidy:
    »Wir?«
    »Schriftsteller. Wer sonst?«
    Er beobachtete noch immer das Mädchen, aber sein Gesichtsausdruck war weder freundlich noch neugierig, und als er weitersprach, hatte seine Stimme eine Spur der vertrauten irischen Färbung.
    »Ja doch, ich meine die Kinderwagenverkäufer: Ihr müßt euch auf die Hinterbeine stellen. Schwerer Stand, aber ihr wißt, wo ihr steht. Ihr kriegt’s in dieser Welt, also seid ihr in der nächsten fein raus.« Das Mädchen wählte Flaschen aus. Sie deutete mit der kleinen behandschuhten Hand: nicht diese, die andere. Sie trug ein schwarzes Band um den Hals, ein einzelner Brillant funkelte in der Mitte. »Die Friedfertigen lachen: Sie sind Gottes Kinder, und bessere Eltern kann man sich nicht wünschen. Aber ich bin nicht scheiß-friedfertig, oder?«
    »Ganz sicher nicht«, sagte Cassidy, der Shamus’ Themawechsel noch nicht ganz mitgekriegt hatte, herzlich.
    »Ich bin streitfertig. Einer, der seine Meinung sagt.«
    »Und ein Mann des Alten Testaments«, erinnerte Cassidy ihn, »wie Hall.«
    Hatte Shamus wirklich geboxt? Cassidy hatte in Sherborne geboxt. Er hatte den Fehler begangen, vor dem Match ein Bad zu nehmen, seinem Schulvorstand zuliebe, der eine hohe Meinung von seiner religiösen Durchschlagskraft hatte. Obwohl er eine Weile stehengeblieben war und sich hatte schlagen lassen, mußte er sich in der dritten Runde doch hinlegen, und noch nach Jahren verursachten lederne Autositze ihm Übelkeit.
    »Schnauze«, sagte Shamus.
    »Wie?«
    »Schnauze. Hör auf mit Hall.«
    »Verzeihung«, sagte Cassidy verständnislos.
    Noch immer hielt das Mädchen Shamus’ ganze Aufmerksamkeit gefangen. Der maître d’hôtel goß ein wenig Limonade in ihr Weinglas. ›Genug‹, sagte die schmale Hand, und die Flasche verschwand.
    »Und das kleine Miststück ist fein raus, weil sie ein Kind ist«, fuhr Shamus, immer noch beim Thema der Seligen fort, »und Kinder genießen vollen Schutz. Durchaus richtig und in Ordnung. Ich bin selber ein glühender Verteidiger des Nachwuchses, obgleich ich der Meinung bin, die Altersgrenze könnte ein bißchen herabgesetzt werden. Aber was kriegen die Schriftsteller? Ich sage Ihnen eins: Wir sind nicht sanftmütig, nein danke, also werden wir das Erdreich nicht besitzen. Und wir sind auch nicht arm im Geiste, also können wir nicht mit dem Himmelreich rechnen, zum Beispiel.«
    Sein Gesichtsausdruck näherte sich grimmigem Ärger. Er nahm Cassidys Hand und streichelte sie liebevoll, redete sich selber gut zu. »Ruhig, Lover, ruhig … nicht böse werden … ruhig …« Entspannt lächelte er. »Sie sehen, Lover«, erklärte er mit sanfterer Stimme, »man wird einfach nicht ausreichend informiert , das ist meine Meinung. Ich sagte es Flaherty erst letzte Woche. Flaherty, was wollen Sie für die Schriftsteller tun? sagte ich: Kriegen sie’s jetzt oder später? Sie verstehen mich doch, Lover, nicht wahr? Sie sind schließlich der Boß. Sie zahlen.«
    »Nun, sie haben ihre Freiheit «, schlug Cassidy behutsam vor.
    Shamus fuhr auf ihn los. »Freiheit wovon, Himmel, Scheiße noch mal? Freiheit von all dem schönen Geld? Diese Freiheit? Oder sollten Sie womöglich an die unerträgliche Sklaverei öffentlicher Anerkennung gedacht haben?« Zu spät nahm Cassidy Zuflucht zu seiner Sitzungsstimme. »Ich habe wohl eher an die Freiheit von der Banalität gedacht«, sagte er leichthin und benutzte das Vorüberkommen eines Kellners, um Cognac zu bestellen.
    »Ach wirklich?« sagte Shamus verbindlich, und der irische Akzent gelangte zu voller Blüte. »Damit mögen Sie recht haben. Ich will zugeben, daß Freiheit von der Banalität ein Privileg ist, das ich vielleicht übersehen habe. Denn schließlich könnte ich den ganzen Tag schlafen, das stimmt, und kein Aas würde sich darum scheren. Nicht jeder kann das von sich sagen, wie? Ich meine, es würde kein Gefängniswärter kommen und an die Tür donnern oder mir befehlen, ich solle meinen Eimer leeren, und ich würde nur die Laute von Gelächter hören,

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