Wachsam
Möglichkeitsform; Helen ist Erfüllung.
»Ist sie böse wegen … Elsie und so, Shamus?«
»Nicht, solange Sie Elsie heißen«, sagte Shamus.
Von der Verpflichtung, romantisch zu leben und tief zu empfinden. Er sprach vom Schreiben, und was für eine mindere Aufgabe es sei neben der Berufung zur Tat.
»Ein Buch … Himmel. Etwas so Kleines , nur eine Handvoll Tage. Hinlängliches , daraus besteht ein Buch. Man ist hinlänglich besoffen, hat ein hinlänglich schlechtes Gewissen, ist hinlänglich verschroben, und plötzlich … es ist ein Naturvorgang. Ehrenwort, Lover.«
Schöpfung sei ein Akt der Mäßigung, aber das Leben: Das Leben , sagte Shamus, sei nur möglich im Überschwang. Wer möchte hinlänglich haben, um Himmels willen? Wer will das Zwielicht, wenn er die Sonne haben kann?
»Niemand«, sagte Cassidy ergeben und glaubte, die Wahrheit gesagt zu haben.
Er sprach über Inspiration, daß sie großenteils echt ist, aber nutzlos, man ließe seine Seele draußen bei jedem Wetter, die Vögel schissen drauf, der Regen wusch sie, und doch mußte man sie draußen lassen, kneifen gab es nicht, also scheiß drauf. Über Gleichheit, nämlich daß es keine gab, und Freiheit, genausowenig, alles Scheißdreck, und der Schöpfungsakt war der größte Scheißdreck von allem, sei es Gottes oder Shamus’ Schöpfung. Denn Freiheit bedeutete die Erfüllung des Genies, und die Existenz des Genies schloß Gleichheit aus. Daher war das Geplärr nach Freiheit lauter neutestamentarischer Scheißdreck, und das Gezeter nach Gleichheit war das Gezeter der Viel-zu-vielen, Shamus schiß auf sie alle. Wie er die Jugend haßte, sie machte aus jedem kleinen Pinscher, der sich einen Malpinsel kaufen konnte, gleich einen Künstler; wie er das Alter haßte, es hemmte das Genie der Jugend; wie die Welt existierte, weil Shamus sie mit eigenen Augen sah, mit Sicherheit würde sie ohne ihn sterben.
Und als Shamus ihm vom Leben erzählt hatte, erzählte er ihm auch von der Kunst. Nicht der vatikanischen Kunst, nicht der aus den Kunstgeschichtsbüchern, nichts für ein Schulzeugnis, man brauche sich nur an diese beiden Fragen heranzuwagen.
Die Kunst als Schicksal. Als eine Aufforderung und eine holde Agonie.
Und aus der Luft, aus den fließenden Konturen von Shamus’ magischer Rede überkam Cassidy die Erkenntnis, daß Shamus erwählt war.
Schicksalhaft, wunderbar erwählt.
Daß er zu einer Körperschaft von Menschen gehörte, die sich nie versammelten; der Elite der Jungverstorbenen; und er hatte bereits ihren Bruderkuß empfangen.
Die von den Kellnern geliebt wurden, obgleich sie niemals Trinkgeld gaben.
Daß er ein einzelner von einem Rudel war, ein Weniger gegen die Viel-zu-vielen, doch jeder jagte allein, und keiner fand Hilfe in Notzeiten, nur den Trost des Wissens.
» Was wissen, Shamus?«
Daß man gehörte, und sonst nichts.
Daß man der Beste sei und nur sich selber erwählen könne. Daß Flaherty der einzig wahre und lebendige Gott sei, denn Flaherty hatte sich selber ernannt, und der Selber-Ernannte war göttlich und grenzenlos und zeitlos wie die Liebe.
Was nun, genau gesagt, Shamus mit den anderen verband, das war, wie Cassidys Lehrer gesagt haben würde, ein Konzept, kein Faktum. Das Konzept bestand darin, sich selber schon sehr früh zu wählen und lange vor der Zeit mit dem Tod vertraut zu sein: mit dem vorzeitigen Tod, dem romantischen Tod, der jäh kommt und alles Fleisch zerstört. Im Leben dauernd die äußersten Grenzen der eigenen Existenz erproben, die vorgeschobene Linie der eigenen Identität. Wasser brauchen, nicht Luft; das Wasser definierte die Persönlichkeit, es gab einen deutschen Dichter, der stets in Brunnen badete; der Mensch ist gestaltlos, bis die eisigen Wasser der Erfahrung ihm zeigen, wer er ist, folglich heißt es: totales Untertauchen, Gewalt, mit Hall boxen, die Baptistenkirche, und (irgendwie) wiederum Flaherty.
Allmählich und mit Hilfe einer dritten Flasche Wein und mehrerer von Shamus gelieferter Namen machte Cassidy sich ein Bild dieser wunderbaren Bruderschaft, dieser ›Wenigen‹: ein nicht-fliegendes Kampf-um-England-Geschwader, kommandiert von Keats und sekundiert von einer langen Liste junger Männer.
Nicht alle waren Engländer.
Eher waren sie ein Geschwader des Freien Europa, mit Piloten wie Novalis, Kleist, Byron, Puschkin und Scott Fitzgerald. Ihr Feind war die Bourgeoisie: die Gerrards Crossers wiederum, die scheißseelenfängerischen Bischöfe, die
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