Wackelkontakte - Kein Sex geht gar nicht
und kam ins Grübeln. Das tat ich seit meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag immer in der Nacht vor meinem Geburtstag. Normalerweise entstand die Grübelei aus der einfachen praktischen Überlegung heraus, ob für die Party auch genügend Bier im Kühlschrank war, entwickelte sich dann meist zu einer leichten Depression, weil ich schon wieder ein Jahr älter wurde, und führte schließlich zu tiefgehenden philosophischen Gedanken über den Sinn meines Lebens, den Sinn des Lebens im Allgemeinen und des Daseins auf Erden überhaupt.
Heute Nacht fing ich allerdings gleich mit der leichten Depression über das Älterwerden an, da ich mich nicht selbst um die Getränke kümmern musste, und blieb darin hängen. Ich konnte das Gefühl, ohne Sinn und Verstand älter zu werden, partout nicht durch universellere Themen verdrängen, und irgendwann war ich von meinen eigenen Gedanken so genervt, dass ich aufstand. Ich schlich leise durchs Wohnzimmer, um Tim nicht zu wecken, und öffnete vorsichtig die Tür zur Terrasse. Sie quietschte ein wenig – irgendwie quietschte in diesem Haus alles –, aber Tim rührte sich nicht. Auf der Terrasse zündete ich mir heimlich eine Zigarette an, denn Tina und ich hatten uns nach dem Herzinfarkt ihres Vaters gegenseitig hoch und heilig versprochen, nie wieder zu rauchen. Dann starrte ich in die Nacht hinaus und hoffte, dass mir bei dem Anblick der Sterne die Nichtigkeit meines kleinen Lebens bewusst wurde. Aber leider wurde ich vorher abgelenkt, als hinter mir die Terrassentür erneut quietschte. Ich warf schnell meine Zigarette weg.
»Ich dachte, du hast aufgehört zu rauchen.«
Tim! Na super, wegen ihm hatte ich meine einzige Zigarette geopfert.
»Das hab ich auch, aber das war meine Notzigarette. Mist.« Ich kletterte über das Geländer und suchte im Gebüsch nach der Zigarette.
»Du hast einen Notfall?«, fragte Tim interessiert.
»Genau! Verdammt, die ist weg.« Ich kletterte wieder zurück auf die Terrasse.
»Was denn für einen Notfall?«
»Ich habe morgen Geburtstag, falls du es noch nicht wusstest.« Ich starrte jetzt ohne Zigarette weiter in die Dunkelheit.
Tim lachte. »Ein Geburtstag ist doch kein Notfall.«
»Doch, bei Frauen sind alle Geburtstage nach dem dreißigsten ein Notfall, und bei mir sind Geburtstage eigentlich immer Notfälle.«
»Wieso das denn?«
Was sollte das denn jetzt wieder werden? Talk mit Tim um Mitternacht?
»Weil … weil … weil ich nie so alt werden wollte. Zumindest nicht so.«
Tim schaute mich etwas verwirrt an. Ich gab zu, dass die Erklärung nicht ganz verständlich war, natürlich wollte ich älter als dreißig werden, aber eben nicht so. Mehr konnte ich einfach nicht dazu sagen. »Ist ja auch egal«, winkte ich ab. »Dann geh ich mich jetzt eben im Lago Maggiore ertränken.«
Ich holte mir schnell ein Handtuch von der Wäscheleine und kletterte wieder über das Geländer. Es war stockduster, aber ich hätte den Weg zum Strand auch im Schlaf laufen können. Früher waren Tina und ich oft nachts schwimmen gewesen. Auch wenn es ganz allein doch etwas unheimlich war, hatte ich keine Lust, mich weiter von Tim über meinen Geburtstagsnotfall ausfragen zu lassen, und beschloss, schon allein deswegen nicht umzukehren. Allerdings brauchte ich das auch gar nicht, denn Tim kam mir mit einer Taschenlampe hinterher.
»Ich betätige mich zwar ungern nachts als Rettungsschwimmer, aber ich kann dich ja schlecht einfach so ertrinken lassen.«
Ich ging unbeeindruckt weiter. »Keine Angst. Ich hatte nicht vor zu ertrinken. Du kannst also in Ruhe wieder umkehren. Außerdem könntest du mich sowieso nicht retten.«
Das stimmte sogar, denn ich hatte zu meinem Erstaunen festgestellt, das Schwimmen wahrscheinlich die einzige Sportart war, in der ich Tim problemlos schlagen könnte. Aber Tim wollte unbedingt seine Fragestunde fortführen und ging auf meine Beleidigung gar nicht ein.
»Also, was genau ist so schlimm an deinem Geburtstag?«
»Der Geburtstag.«
»Du wirst ein Jahr älter, na und, einunddreißig ist doch kein Alter.«
Langsam platzte mir echt der Kragen. Schlimm genug, dass ich einunddreißig wurde, musste er mich jetzt auch noch ununterbrochen darauf aufmerksam machen?
»Vielleicht nicht, wenn man die einunddreißig Jahre sinnvoll genutzt hat«, erwiderte ich genervt. »Aber ich … , ich versuche seit einunddreißig Jahren etwas aus meinem Leben zu machen, und stattdessen macht das Leben ständig etwas mit mir. Ich meine, ich verlange
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