Wächter der Seelen / Gefährlich wie ein Engel. Roman
sich zusammen.
Irgendwann morgen Nachmittag
bedeutete, dass sie nicht zur Arbeit erscheinen würde. Und das wiederum bedeutete, dass Rachel nicht da sein würde, um ihr Team zu leiten und ihm zu helfen, die riesige Menge ausstehender Grafiken abzuarbeiten. Außerdem mussten die Illustrationen, die sie am Abend zuvor fertiggestellt hatte, noch abgegeben werden. Wenn Rachel unter diesen Umständen einen Tag fehlte, ließe sie die ganze Abteilung im Stich und gefährdete vielleicht sogar den Erscheinungstermin. Die Leute im Büro zählten auf sie, beteten darum, dass Rachel sie rettete, und nun würde sie sie enttäuschen. Großartig … Aber hier ging es um Em, jenes süß duftende Engelchen, mit dem Rachel aus der Klinik nach Hause gekommen war. Jenes lachende Mädchen, das an seinem sechsten Geburtstag die Kerzen ausgepustet und verkündet hatte: »Ich werde Fee.« Für diese Fahrt nach San Diego würde Rachel alles stehen- und liegenlassen. Ausnahmsweise musste die Arbeit hintanstehen. In dieser Nacht würde Rachel ihrer Tochter bedingungslos und ungeachtet der Konsequenzen und der eigenen Bedürfnisse zu Hilfe eilen. Rachel konnte nicht weiter die ganze Last des Büros allein schultern. Sie konnte nicht weiter zulassen, dass die Schuldgefühle, sowohl ihrer Tochter als auch der Firma nicht zu genügen, sie zerrissen. Auf der Fahrt nach San Diego würde Rachel Nigel eine Nachricht auf den Anrufbeantworter sprechen, erklären, was geschehen war, und dann das Beste hoffen.
»Gut.« Rachel schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und ergriff Lachlans Hand. »Ich bin so weit.«
Die Sonne kroch gerade über den Horizont, als Em mit Drew vor dem Haus ihres Vaters an der Sixth Avenue vorfuhr. Obwohl das Motorrad für lange Fahrten ausgelegt und erstaunlich bequem war, zitterten Ems Beine, als sie abstieg. »Bestimmt ist er noch nicht wach«, sagte sie. »Es ist ziemlich früh.«
»Wir rufen ihn an.«
Em nahm den Helm ab und schüttelte ihr Haar. »Vielleicht sollten wir zuerst irgendwo frühstücken. Mein Dad ist kein Frühaufsteher.«
Drew strich ihr eine Strähne aus den Augen und sagte: »Das ist es, was du dir gewünscht hast, oder? Deinen Dad zu besuchen?«
»Ja.« Em lächelte ihn an. »Danke.«
Er küsste sie, kühl und flüchtig. »Ich würde alles für dich tun, Süße. Das weißt du doch.«
Sie betraten Hand in Hand das Gebäude, und Em gab am Haustelefon in der Lobby die Nummer ihres Vaters ein. Nach dem dritten Versuch zuckte sie die Achseln. »Entweder ist er nicht zu Hause oder noch nicht wach. Gehen wir frühstücken.«
»Versuch’s noch einmal.«
Sie seufzte, tat aber, was Drew gesagt hatte. Und bekam eine schlaftrunkene, mürrische Antwort. »Wer zum Teufel ist da?«
»Dad, ich bin’s, Em.«
»Em?«
Ihr Vater klang so verblüfft und ungläubig, dass sie sicherheitshalber hinzufügte: »Emily, deine Tochter.«
»Oh.«
»Kann ich heraufkommen?«
Er sagte nichts und legte einfach auf. Aber eine Sekunde später summte es, und Em drückte die Tür auf. Das Mädchen lächelte Drew schwach an. »Er ist nicht er selbst, bis er einen Kaffee getrunken hat.«
Der Mann, der auf ihr Klopfen hin die Wohnungstür öffnete, war eine zerzauste Ausgabe des Mannes auf Ems Lieblingsbild. Irgendwie gelang es ihm aber doch, in dem ausgewaschenen braunen T-Shirt und den blau gestreiften Baumwollshorts so gut wie immer auszusehen – so wie ihr Dad. Em schlang die Arme um seinen Hals, schloss die Augen und sog zusammen mit dem Polo-Duft einen Atemzug alter Erinnerungen ein.
»Hi, Prinzessin.« Ihr Vater drückte sie in seiner vertrauten, übertriebenen Art an sich, bei der Em kichernd mit den Zehen vom Boden abhob. Dann ließ er sie los, sah zu Drew und runzelte die Stirn. »Was ist los? Wo ist deine Mutter?«
Em war noch nicht so weit, Erklärungen abzugeben, und so zuckte sie die Achseln. »In San Jose. Sie hat im Büro ziemlich viel zu erledigen.«
»Solltest du nicht in der Schule sein?«
»Die Schule ödet mich an. Ich hab mir für ein paar Tage freigenommen.«
Ihr Vater sah erneut zu Drew. Sein Blick war eher neugierig als ablehnend. »Und das ist …«
Em stellte die beiden einander vor und fügte hinzu: »Wir dachten, wir könnten das Wochenende hier bei dir verbringen. Ein bisschen mit dir herumhängen, ein bisschen shoppen gehen.«
»Deine Mom weiß nicht, dass du hier bist, oder?«
»Komm schon, Dad. Du weißt doch, wie sie ist. Sie flippt aus, wenn nicht alles so läuft, wie sie es
Weitere Kostenlose Bücher