Waechter des Labyrinths
Schinken dazu, der in der Speisekammer hing. Dann füllte sie die zweite Schüssel mit Wasser und trug beide hinaus. Der Hund tobte, als er sie bemerkte, und zerrte so heftig an der Leine, dass sie automatisch zurückschreckte und Wasser über ihre Beine verschüttete. «Du dämlicher Köter!», schrie sie. «Ich will dich doch nur füttern.»
Als er nicht aufhörte, zu knurren und zu kläffen, zuckte sie mit den Schultern und trug die Schüsseln wieder hinein. Sofort hörte das Bellen auf, und das Winseln begann. Sie stöhnte verärgert und ging wieder raus. Dieses Mal trotzte sie seinem Gekläffe und stellte beide Schüsseln so dicht vor ihn, wie sie sich herantraute. Dann holte sie die Flinte aus dem Haus, hielt sie am Lauf und schob die Schüsseln mit dem Schaft weiter nach vorn, bis er fressen konnte. Aber solange Gaille dastand, beachtete er das Futter gar nicht, sondern tobte einfach weiter. Sie ging ins Haus zurück, stellte die Flinte an ihren Platz, nahm ihr Notizbuch wieder zur Hand und versuchte, sich auf die Tagebücher zu konzentrieren.
Sie vermutete, dass es sich um eine einfache Ersatzschrift handelte. Bestimmt hatte Petitier keine Lust gehabt, den Text jedes Mal mühevoll zu entschlüsseln, wenn er in den Büchern nachschlagen wollte. Wer eine eigene Geheimschrift benutzte, war häufig so vertraut damit, dass er sie fast genauso mühelos lesen konnte wie einen normalen Text. Und da kein Code vor hochentwickelten modernen Entschlüsselungstechniken Bestand hatte, konnte Petitier sowieso nur gehofft haben, einen ungebeteten Leser damit zu verwirren. Eine Ersatzschrift wäre dafür völlig ausreichend gewesen.
Gaille wusste, dass der Trick beim Knacken solcher Geheimschriften darin bestand, häufig wiederkehrende Sequenzen von Symbolen zu suchen, die auf ein und dasselbe ursprüngliche Wort hindeuten. Es dauerte nicht lange, bis sie einige dieser Symbolgruppen entdeckt hatte und erste Vermutungen anstellen konnte, welche Wörter dahintersteckten. Dann versuchte sie die entschlüsselten Buchstaben auf den restlichen Text des Tagebuchs anzuwenden. Doch obwohl sie es mit verschiedenen Sprachen versuchte, kam nur Unsinn dabei heraus. Sie versuchte es anders und zählte die verschiedenen Symbole zusammen, die er benutzt hatte. Auf diese Weise hoffte sie zumindest herauszufinden, in welchem Alphabet der ursprüngliche Text geschrieben war. Das griechische Alphabet hatte beispielsweise vierundzwanzig Buchstaben, das lateinische dagegen sechsundzwanzig, das arabische achtundzwanzig. Sie kam jedoch schnell auf zweiundvierzig Symbole, was darauf schließen ließ, dass seine Schrift nicht nur Buchstaben, sondern auch Zahlen und mathematische oder grammatikalische Zeichen beinhaltete. Als Nächstes notierte sie, mit welcher Häufigkeit einzelne Symbole oder Symbolkombinationen auftauchten. Aber da sie nicht wusste, von welcher Grundsprache sie ausgehen sollte, half ihr das auch nicht weiter.
Frustriert schob sie ihr Notizbuch zur Seite. Draußen war es still. Nein, nicht ganz. Sie lauschte, erhob sich leise und ging auf Zehenspitzen zur Tür. Der Hund hatte seine Schnauze tief in die Schüssel mit Nudeln gesteckt und warf dann den Kopf zurück, um einen großen Happen zu verschlingen. Sein herzhaftes Mampfen war Musik in ihren Ohren.
II
Knox konnte sich nicht erinnern, jemals solche Schmerzen in der Brust gehabt zu haben. Nach dem Schlag, den er eingesteckt hatte, galt das Gleiche für seinen Magen. Sein Herz fühlte sich an wie ein zerfetzter Gummiball, Kehle und Nase waren so wund, als hätte man sie von innen mit Sandpapier bearbeitet. Er drehte sich auf die Seite und spuckte wässrigen Schleim aus, der über den Knebel tropfte und ihm die Wange hinablief. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Wie oft hatte er die Folter schon über sie ergehen lassen müssen? Viermal? Fünfmal?
«Aha», sagte Michail. «Wie ich sehe, sind Sie wieder bei uns.» Er hielt das Handtuch in der Hand, das noch immer feucht war.
Der Anblick genügte, um Knox zum Zittern zu bringen. «Was wollen Sie?», fragte er. Aber durch den Knebel war nur ein unverständliches Stöhnen zu hören.
Michail faltete das Handtuch in der Mitte zusammen, um es Knox wieder aufs Gesicht zu legen. «Halt seinen Kopf fest», forderte er Davit auf.
«Bitte», stieß Knox hervor. «Nicht.»
«Er wird jetzt reden», sagte Davit.
«Heb seine Füße hoch», verlangte Michail von Zaal.
«Bitte», flehte Knox.
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