Wächter des Mythos (German Edition)
wie Bernhard auf seinen Marien-Wahn gekommen sein soll?«, fragte Maria schmunzelnd. »Als Kind soll ihm doch tatsächlich die wundersame Gnade der schwarzen Madonna von Chatillon zuteilgeworden sein, als er beobachtete, wie drei Tropfen Milch aus ihrer Brust austraten. Dieses Ereignis soll sein Leben beeinflusst haben. Doch eine solche Vorstellung ist ja schon sehr lüstern ! Vor allem, wenn man bedenkt, wie diese mittelalterlichen Marien-Figuren ausgesehen haben. Ich denke, es braucht wirklich sehr, sehr viel Fantasie, um bei einer nahezu vermummten Holzfigur Muttermilch austreten zu sehen.«
»Mir ist auch nicht bekannt, dass man bei Marien-Figuren die nackten Brüste sieht«, sagte Alina lachend. »Jedenfalls wird ihm zugeschrieben, das weibliche Prinzip innerhalb der Kirche wiederbelebt zu haben.«
»Sicher war es auch seine Idee, die beiden kosmischen Diagramme, das Hexagramm und das Pentagramm, als Proportionsschlüssel und auch als Konstruktionsprinzipien in der Architektur zu verwenden«, fuhr Maria fort, stolz in dieses Mysterium eingeweiht zu sein. »Ich habe lange gebraucht, um deinen Vater davon zu überzeugen, dass es möglicherweise der Heilige Bernhard war, der diese Diagramme als Grundlage für die Entwicklung der geheimnisvollen Zeichen auf dem Kelch nutze.«
»Allein das Pentagramm als Proportionsschlüssel zu benutzen ist schon genial: Seine Diagonalen teilen sich gegenseitig genau im Verhältnis des Goldenen Schnitts«, sagte Rey.
»Des Goldenen Schnitts ?«, fragte Maria.
»Ja, das ist eine harmonische Teilung, die in den Gesetzmäßigkeiten der Natur zum Ausdruck kommt. Dieses Harmoniegesetz wurde und wird von Architekten und Malern verwendet. Auch eine perfekte Spirale kann mit einem Pentagramm konstruiert werden«, erklärte ihr Alina.
»Ich dachte immer, die Kirche verteufelte das Pentagramm, weil es auch im alten Keltentum zu finden war«, sagte Maria.
»Doch wohl eher wegen seines weiblichen Ursprungs«, ergänzte Sandino.
»Es wurde aber auch als Zeichen für die Alchemie des Mikrokosmos verwendet. Damit verkörpert es den Menschen mit seinen fünf Sinnen, fünf Enden und fünf Fingern. Und die fünf Zustandsformen der Materie; fest, flüssig, feurig, gasförmig und ätherisch«, warf Alina dazwischen.
»Genau, und zu Recht gilt es auch als Zeichen der Venus. Dieser Planet zeichnet innerhalb von etwa acht Jahren ein nahezu exaktes Pentagramm in den Himmelsraum. All diese Symbole verdanken ihr Dasein einer Mystik, die im Mittelalter durch orientalisches Gedankengut aus der Antike erneut in den europäischen Kulturraum kam«, fügte Maria hinzu.
» Wie? «, fragte Alina ganz erstaunt. »Was haben spanische Mauren mit mittelalterlicher Mystik am Hut?«
»So um 1100 n. Chr. kam von spanischen Mauren antikes Gedankengut über Astrologie, Alchemie, Hermetik usw. in den europäischen Kulturraum und beeinflusste die frühen Mystiker wie Bernhard von Clairvaux. Daher wäre es denkbar, dass er sich wegen des siebten Prinzips der Hermetik zum großen Förderer des weiblichen Prinzips im Christentum entwickelte. Das 12. Jahrhundert galt auch als Bernhardinisches Zeitalter , in dieser Zeit wurden zahlreiche Kirchen zu Ehren der Mutter Maria gebaut.«
»Stimmt, nach dem siebten Prinzip der Hermetik hat grundsätzlich alles Existierende männliche und weibliche Prinzipien«, fuhr Ray dazwischen.
»Dann war das wohl Bernhards Versuch, dieser Idee mit dem Marien-Kult gerecht zu werden«, meldete sich Sandino zu Wort. »Aber zeitgleich gab es da auch noch den Einfluss von einer Frau. Hildegard von Bingen war wohl die erste Vertreterin der deutschen Mystik im Mittelalter. Sie führte einen intensiven Briefwechsel mit bedeutenden Zeitgenossen, auch mit Bernhard von Clairvaux. In ihrem Liber Divinorum Operum beschreibt sie die Schöpfungsordnung gemäß der Mikro-Makrokosmos-Vorstellung, und zwar als etwas, in dem Leib und Seele, Welt und Kirche, Natur und Gnade in die Verantwortung des Menschen gestellt sind. Als die hervorragendste Frau ihrer Zeit wird sie die Mystiker wie Bernhard von Clairvaux sicher beeinflusst haben.«
»Ich denke, vieles, was einst in frühen Zeiten und auch im keltischen Herzen Europas verehrt wurde, war vergessen, und wurde erst im Mittelalter neu entdeckt! So wie Sonne und Mond, die als männliche und weibliche Prinzipien auch den beiden Kelchen zugeordnet sind«, übernahm nun Maria wieder das Wort.
»Richtig«, antwortete Ray. »Jedenfalls war einer der
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