Wächter
Flüchtlinge glaubten nicht, dass diese Verweigerer den nächsten Winter überleben würden.
Also würde das menschliche Leben hier zunächst einmal weitergehen. Doch dieser Tag markierte das Ende des zivilisierten Chicago. Und über dem lebhaften Geplapper der Menschen vermochte Bisesa schon das Knirschen des geduldigen Eises zu hören.
Emeline reihte sich mit Bisesa in die »gutbürgerliche« Gesellschaft ein, die sich hinter den Leit-Kutschen formiert hatte. Eine Abteilung Trommler war angetreten; sie bibberten und umklammerten mit behandschuhten Händen ihre Stöcke.
Sie fanden schnell Harry und Joshua, Emelines Söhne. Harry, der ältere Sohn und Weggänger , war zurückgekommen, um seiner Mutter beim Verlassen der Stadt zu helfen. Bisesa freute sich, sie zu sehen. Die beiden hoch gewachsenen, schlanken und kräftigen jungen Männer waren mit abgetragenen Mänteln aus Robbenpelz bekleidet und hatten die Gesichter gegen die Kälte eingefettet. So schienen sie für die neue Welt gerüstet. Bisesa sagte sich, dass mit den Jungen ihre eigenen Chancen, diesen Treck zu überleben, sich stark verbesserten.
Gifford Oker löste sich aus der Menschenmenge und kam zu ihnen. Er trug einen wallenden schwarzen Pelzmantel und hatte sich einen Zylinderhut tief ins Gesicht gezogen. Er war nur mit einem leichten Rucksack ausgerüstet, aus dem Papprollen hervorlugten. »Madame Dutt, Mrs. White. Ich bin froh, dass ich Sie gefunden habe.«
»Sie scheinen mit leichtem Gepäck zu reisen, Professor«, sagte Emeline salopp. »Was sind das denn für Dokumente?«
»Sternkarten«, klärte er sie mit fester Stimme auf. »Der wahre Schatz unserer Zivilisation. Und noch ein paar Bücher - es ist eine Schande, dass wir nicht im Stande waren, auch die Bibliotheken zu räumen! Mit jedem Buch, das im Eis verschwindet, geht ein Stück unserer Vergangenheit unwiederbringlich verloren. Aber was meine persönlichen Gebrauchsgegenstände betrifft, habe ich meine eigene Truppe von Sklaven, die mir beim Tragen helfen. Man nennt sie auch Doktoranden.«
Noch’n Witzchen dieses steifen Professors. Bisesa lachte höflich.
»Madame Dutt, Sie wissen wahrscheinlich schon, dass Jacob Rice nach Ihnen sucht. Er wird warten, bis der Zug sich in Bewegung gesetzt hat. Aber er möchte, dass Sie zu ihm in die Kutsche kommen. Abdikadir ist bereits bei ihm.«
»Ach ja? Ich hatte gehofft, dass Abdikadir mit Ihnen reiste.« Abdi hatte mit Oker und seinen Studenten nämlich an Astronomie-Projekten gearbeitet.
Doch Oker schüttelte den Kopf. »Der Wunsch des Bürgermeisters ist Befehl.«
»Es wird die Sache wohl wert sein, ein Stück in einer warmen Kutsche zu reisen. Aber was will er überhaupt?«
Oker hob eine Braue. »Ich glaube, das wissen Sie. Er will Ihr Wissen über Alexander und sein Weltreich abschöpfen. Sarissae und Dampfmaschinen - ich muss gestehen, dass ich selbst auch neugierig bin!«
Sie lächelte. »Er träumt noch immer von der Weltherrschaft?«
»Betrachten Sie es einmal von Rice’ Standpunkt«, sagte Oker. »Das ist die Vollendung eines großen Projekts, die Wanderung vom alten Chicago zum neuen: ein Werk, in das er seit Jahren seine Energie investiert hatte. Jacob Rice ist noch ein junger Mann und ein hungriger und energischer dazu, und ich glaube, wir sollten froh darüber sein. Sonst wären wir sicher nicht so weit gekommen. Nun sucht er eben nach einer neuen Herausforderung.«
»Diese Welt ist ein ziemlich großer Ort«, sagte Bisesa. »Platz genug für jeden.«
»Aber nicht unendlich«, sagte Oker. »Zumal wir bereits erste Kontakte über den Ozean hinweg geknüpft haben. Rice ist kein Alexander, davon bin ich überzeugt, aber weder er noch der Große König werden sich dem jeweils anderen unterordnen.
Und, wissen Sie, es gibt vielleicht etwas, für das es sich zu kämpfen lohnt. Rice hat akzeptiert, was Sie und Abdikadir von der Zukunft gesagt haben. Er hat seine Wissenschaftler und insbesondere mich beauftragt, nach einem Weg zu suchen, das Ende des Weltalls abzuwenden - oder ihm vielleicht sogar zu entkommen.«
»Wow! Er denkt wirklich in großen Zusammenhängen.«
»Und er vertritt die Ansicht, dass die Herrschaft über diese Welt eine erste notwendige Voraussetzung für ihre Rettung sei.«
Rice hatte vielleicht sogar recht, sagte Bisesa sich. Wenn der einzige Weg zurück zur Erde durch das Auge in Babylon führte, war ein Krieg um den Besitz dieser Stadt letztlich vielleicht unvermeidlich.
Oker seufzte. »Das Problem
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