Wächter
schwamm umher und spielte und jagte Wesen, die sich gar nicht mal so sehr unterschieden von Fisch. Die Zeugin hatte sogar zwei Eltern: Die Zweigeschlechtlichkeit war eine gute Strategie, um Erbgut zu vermischen. Eine konvergente Evolution war eine starke Kraft. Aber die Architektur des Körpers der Zeugin beruhte auf sechs Gliedern, nicht vier.
Die besten Zeiten waren die Tage - jeder vierte -, wenn der eisige Deckel des Ozeans sich auflöste und die Leute sich auf die Insel plumpsen ließen.
An Land waren sie natürlich schwer und viel unbeweglicher. Aber die Zeugin liebte die existenzielle Wahrnehmung des körnigen Sands unter dem Bauch und die Frische der kalten Luft. Es gab Wunder auf der Insel, Städte und Fabriken, Tempel und wissenschaftliche Einrichtungen. Und die Zeugin liebte den Himmel. Sie liebte die Sterne, die nachts leuchteten - und die drei Sonnen, die am Tag schienen.
Wenn diese Welt eine gewisse Ähnlichkeit mit der Erde hatte, galt das aber nicht für ihre Sonne. Dieses System wurde
von einem Stern mit der doppelten Masse und der achtfachen Helligkeit der Sonne beherrscht; sie hatte einen kleineren Begleiter, der vom grellen Schein des Riesen fast überstrahlt wurde und noch einen dritten, einen entfernten dunklen roten Zwerg.
Dieses System war so hell, dass es noch über eine Entfernung von elf Lichtjahren auf der Erde zu sehen war. Sein Name war Alpha Canis Minoris, auch Prokyon genannt. Dieser Stern war den Astronomen aber nur als Doppelstern bekannt; der zweite kleine Begleiter war von der Erde aus noch nicht entdeckt worden.
Aber Prokyon hatte sich verändert. Und der Planet, den der Stern am Leben erhalten hatte, starb.
Als sie älter wurde, lernte die Zeugin Fragen zu stellen.
»Weshalb bin ich allein? Wieso gibt es keine anderen wie mich? Warum ist niemand da, der mit mir spielt?«
»Weil wir einer großen Tragödie entgegengehen«, sagte ihr Vater. »Wir alle. Überall auf der Welt. Es sind die Sonnen, Zeugin . Es stimmt etwas nicht mit den Sonnen.«
Der riesige »Senior-Partner« von Prokyon, Prokyon A, war früher ein Pulsar gewesen.
In der Anfangszeit hatte er stetig geleuchtet. Aber die Helium-»Asche«, die aus der Wasserstofffusion entstehenden Verbrennungsrückstände im Kern setzten ihm allmählich zu. Die gespeicherte Hitze hob die Heliumschicht und die ganze riesige Gasmasse darüber an: Der Stern schwoll an, bis die eingeschlossene Hitze abgeführt war, und dann schrumpfte er wieder. Bis die Helium-Falle erneut zuschnappte.
So geriet der alternde Stern zum Pulsar und schwoll in einem Zyklus von wenigen Tagen an und schrumpfte wieder zusammen. Und es war diese massive Sternenschwingung, die diese Welt mit Leben erfüllt hatte.
Einst, bevor Prokyon A zum Pulsar geworden war, hatte der Planet eine gewisse Ähnlichkeit mit Europa, dem Jupitermond:
Ein salziger Ozean, der unter einer permanenten Eisdecke eingeschlossen war. Es hatte auch Leben hier gegeben, befeuert durch die innere Hitze und komplexe Mineralien, die aus dem Kern der Welt quollen. Jedoch hatte in dieser dunklen Unterwasserwelt keine dieser Lebensformen ein Stadium höherer Intelligenz erlangt.
Das Pulsieren hatte alles geändert.
»Jeden vierten Tag zerbricht das Eis in Eisschollen«, sagten die Eltern der Zeugin . »So konnten wir das Meer verlassen. Und das haben wir auch getan. Unsere Vorfahren veränderten sich und vermochten die Luft zu atmen, die so viel reicher an Sauerstoff ist als das Meerwasser. Und sie lernten, die Möglichkeiten des festen Bodens zu nutzen. Zuerst kamen sie nur an Land, um sich zu paaren und ihre Jungen vor den gierigen Mäulern des Meeres zu schützen. Aber später …«
»Ja, ja«, sagte die Zeugin ungeduldig. Sie kannte die Geschichte ihrer Welt. »Werkzeuge, Intelligenz, Zivilisation.«
»Ja. Aber wie du siehst, verdanken wir alles, was wir haben - sogar unsere Intelligenz -, dem Rhythmus der Sonne. Wir vermögen uns nicht einmal mehr im Wasser fortzupflanzen; wir müssen dazu an Land gehen.«
»Und nun …«, sagte die Zeugin .
»Und nun ist dieser Rhythmus abgeflaut. Fast völlig zum Erliegen gekommen«, sagte ihr Vater.
»Und unsere Welt stirbt«, sagte ihre Mutter traurig.
Nun gab es keine Sonnenlicht-Spitze mehr, kein Schmelzen des Eises. Die Maschinen vermochten das Eis zwar in Abschnitten offen zu halten. Aber ohne die Umwälzung der Luft, die durch die Pumpwirkung des Sterns zustande kam, bildete sich eine Kohlendioxidschicht über der
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