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Wächter

Wächter

Titel: Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baxter Clarke
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Blick auf den festgestampften Schmutz zu ihren Füßen gerichtet.
    Die Stadt innerhalb der Mauern war annähernd rechteckig angelegt und wurde vom Fluss, dem Euphrat, geteilt. Die Reisegesellschaft war von Norden gekommen, östlich des Flusses, und nun rollte der Phaeton auf einer breiten Straße nach Süden, vorbei an prächtigen Gebäuden wie aus einem orientalischen Märchen. Emeline erhaschte einen Blick auf Statuen und Brunnen, und jede Wand war mit glitzernden, polierten Steinen dekoriert und mit Löwen und Rosetten verziert.

    Bloom wies sie auf die Sehenswürdigkeiten hin wie ein Reiseführer auf der Weltausstellung. »Der Komplex rechts von Ihnen ist der Palast von Nebukadnezar, Babylons größtem Herrscher. Der Euphrat trennt die Stadt in zwei Hälften, eine nördliche und eine südliche. Dieser Monumentalsektor im Osten ist anscheinend ein Überbleibsel aus der Zeit von Nebukadnezar, ein paar Jahrhunderte vor Alexander. Eigentlich ist das genauso wenig Alexanders Babylon wie das unsere, wenn Sie wissen, was ich meine. Aber das Westufer, das auch bebaut war, war eine Ruine, eine Zeitscheibe aus einem viel späteren Jahrhundert, vielleicht in der Nähe unseres eigenen. Alexander arbeitet nun schon seit drei Jahrzehnten am Wiederaufbau …«
    Die Straßen waren mit umherwuselnden Menschen überfüllt, größtenteils zu Fuß, manche auch auf Wagen oder zu Pferd. Einige trugen purpurrote Roben, die so prächtig waren wie die Blooms oder noch aufwändiger, und wieder andere trugen praktische Gewänder und Sandalen. Ein geckenhafter Mann mit bemaltem Gesicht stolzierte ebenso gebieterisch wie nonchalant die Straße entlang. Er führte ein Tier, das aussah wie ein dürrer Schimpanse, an einem Seil, das er ihm um den Hals gebunden hatte. Doch dann richtete das »Tier« sich auf den hinteren Gliedmaßen auf, die eine große Ähnlichkeit mit menschlichen Beinen hatten. Es trug eine Art Kittel aus einem glänzenden Stoff, das die Halskrause kaschierte, die Ausweis seiner Sklaverei war. Emeline sah überhaupt niemanden mit Kleidung im westlichen Stil. Die Menschen waren alle kleinwüchsig, gedrungen, muskulös und dunkelhäutig - eine ganz andere Sorte Mensch im Vergleich zur Bevölkerung vom Chicago des 19. Jahrhunderts.
    Und sie spürte sofort die Spannung, die in der Luft lag. Als Einwohnerin von Chicago war sie in der Stadt in ihrem Element und hatte eine Antenne für die Stimmung der Stadtbewohner. Und je hochgestellter die Person war, desto erregter und angespannter wirkte sie. Irgendetwas ging hier vor. Falls
sie sich dessen auch bewusst waren, ließen Bloom und Grove sich zumindest nichts anmerken.
    Die Paradestraße führte sie durch eine Anzahl breiter ummauerter Plätze und schließlich zu dem pyramidenförmigen Bauwerk, das Emeline von außerhalb der Stadt kurz gesehen hatte. Es war eigentlich ein Zikkurat, ein orientalischer Tempelturm mit sieben Terrassen, und ragte auf einer Grundfläche empor, die eine Seitenlänge von hundert Metern haben musste.
    »Die Babylonier nannten das den Etemenanki - was so viel bedeutet wie ›das Haus, welches das Fundament des Himmels und der Erde ist‹ …«
    Dieses Zikkurat war - o Wunder! - der Turm zu Babel.
    Südlich des Turms befand sich ein anderes gewaltiges Monument, das aber erst kürzlich errichtet worden sein musste, wie Emeline am Schimmern der Fassade erkannte. Es war ein mächtiger Quader mit einer Seitenlänge von vielleicht zweihundert Metern und einer Höhe von mindestens siebzig. Seine Basis war mit den vergoldeten Bugsteven von Booten verziert, die aus dem Stein wuchsen wie aus einer Nebelbank, und an den Wänden erzählten helle Friese eine lange Geschichte von Liebe und Krieg. Auf dem Sockel standen zwei riesige, gestiefelte Füße - die Basis einer Statue, die eines Tages noch größer sein würde als der Sockel.
    »Ich habe schon davon gehört«, sagte Grove. »Das Denkmal des Sohns . Es hat aber nichts mit Babylon zu tun. Das ist Alexanders …«
    Der besagte Sohn war Alexanders Zweitgeborener gewesen. Wegen der Unberechenbarkeit der Diskontinuität war der erste Sohn - von der Frau eines in Kriegsgefangenschaft geratenen persischen Generals - nicht mit nach Mir gekommen. Der zweite hieß ebenfalls Alexander und war ihm von seiner Frau Roxana geboren worden, einer baktrischen Prinzessin, auch einer Kriegsgefangenen.
    »Der Junge wurde im ersten Jahr von Mir geboren«, sagte Bloom. »Wir hatten es gefeiert, dass der König wieder einen
Erben hatte.

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