Wächterin der Träume
zugleich. »Das ist also die Tochter von Morpheus und einer Sterblichen.« Das letzte Wort sprach sie aus, als handelte es sich um eine Krankheit.
»Ja«, erwiderte ich mit einem leichten Kopfnicken. Es war das einzige Zugeständnis, das sie von mir zu erwarten hatte, denn ich wollte verdammt sein, wenn ich mich für das, was ich war, schämte.
Die Pfirsichlippen der Obersten Wächterin wurden schmal. Sie wäre eine schöne Frau gewesen, wenn nicht in ihren Gesichtszügen solche Bitterkeit gelegen hätte. »Du wirst beschuldigt, das Traumreich mutwillig in Gefahr gebracht, unsere Gesetze sträflich missachtet und die Sicherheit der Nachtmahre leichtfertig aufs Spiel gesetzt zu haben.«
Ich starrte sie wütend an. »Das habe ich nicht getan!« Um noch entrüsteter klingen zu können, hätte ich wohl einen britischen Akzent haben müssen.
Offensichtlich mochte die Oberste Wächterin keine Widerworte. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf – wodurch sie mich noch ein wenig mehr überragte – und durchbohrte mich mit zornigen Blicken. »Du hast dieses Reich gefährdet, indem du einen Sterblichen hierhergebracht hast. Einen Sterblichen, der genau wusste, wo er sich befand und um was für eine Welt es sich handelte.«
Sie meinte natürlich Noah. Ich hatte ihn ins Traumreich mitgenommen, nachdem wir feststellt hatten, dass Karatos ihm die Fähigkeit zu träumen geraubt hatte. »Ich wusste nicht, dass es verboten ist«, entgegnete ich. »Ich wollte ihn nur beschützen.«
Sie blieb ungerührt. »Deine Unwissenheit beweist nur deinen mangelnden Respekt vor unseren Sitten und Gesetzen. Hättest du dir die Zeit genommen, dich mit ihnen vertraut zu machen, wäre dir das nicht passiert. Doch in den mehr als zwanzig Jahren, in denen du nun weißt, wer du bist, hast du dazu offensichtlich keine Lust verspürt.«
Das war vielleicht ein Biest! Obwohl ich mich zu gern verteidigt und sie zur Schnecke gemacht hätte, schaffte ich es, den Mund zu halten. Was ich auch vorbringen konnte, es änderte nichts an der Tatsache, dass sie recht hatte. Es wäre meine Verpflichtung gewesen, mehr über diese Welt zu lernen. Wenn ich mich dafür interessiert hätte, wer ich war und was das bedeutete, hätte ich gewusst, dass es ein Fehler war, Noah in dieses Reich mitzunehmen, und dass ich dazu eigentlich gar nicht fähig sein durfte. Genau das war der springende Punkt – ich machte ihnen Angst. Doch das beruhte auf Gegenseitigkeit.
»Nur durch deine Beziehung zu dem besagten Sterblichen geriet er in Gefahr«, fuhr die Oberste Wächterin fort. »Und das ist etwas, das jeder Nachtmahr gelobt zu verhindern.«
Ich wusste, dass es gegen alle Grundsätze der Nachtmahre verstieß, einem Menschen zu schaden. Wir waren Beschützer. Ohne auf das Kopfschütteln meines Vaters zu achten, erwiderte ich: »Ich habe nie darum gebeten, zu einer Hälfte dieser Welt und zur anderen der Welt der Sterblichen anzugehören. Ich wollte kein Monstrum sein. Ich mag ja eure Gesetze gebrochen haben, aber es war nicht meine Beziehung zu Noah, die ihm geschadet hat, sondern der Traumdämon. Dieser ist auf Geheiß einiger Bewohner des Traumreichs in die Welt der Menschen eingedrungen, entschlossen, Noahs Körper zu übernehmen. Wenn ich den Dämon nicht daran gehindert hätte, dann hättet ihr jetzt wahrhaftig größere Probleme als mich.«
Mit vor Wut bebenden Nasenflügeln stand ich vor der Obersten Wächterin. Sie behandelte mich, als sei ich ein Ungeziefer, das über ihren Schuh krabbelte. »Du willst behaupten, dass der Traumdämon Karatos auf Geheiß eines anderen handelte?«
Ich atmete tief durch, um mich zu beruhigen. »Ich behaupte es nicht nur. Karatos hat es mir selbst gesagt!« Ich musste mich immer wieder selbst daran erinnern, dass die Gestalt, die versucht hatte, Noah und mich zu töten, kein menschliches Wesen war.
Die Oberste Wächterin hob erzürnt das Kinn. »Und nannte Karatos auch den Namen seines Wohltäters?«
Das war eine eigenartige Wortwahl, denn das, was Karatos getan hatte, hatte nichts mit Wohltaten zu tun. »Nein.«
Sie wirkte überaus zufrieden. »Dann hast du also keine Beweise.«
»Und du hast keine Beweise dafür, dass ich die Gesetze dieses Reiches vorsätzlich gebrochen habe!«, rief ich.
Damit hatte ich sie erwischt, und nach dem Ausdruck von Abscheu in ihren unheimlichen Augen zu urteilen, war ihr dies bewusst.
»In der Tat«, erwiderte sie frostig. »Prinzessin Dawn, der Rat wird jetzt deine Handlungsweise
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