Während die Welt schlief
Woche darauf lautete die Titelgeschichte: »Israel leidet Qualen«. Israel, ein Opfer.
Die amerikanischen Medien scheuchten die Geister auf, die sich in meinem Kopf eingenistet hatten. Aishas liebes Gesicht erschien lächelnd und doch wütend vor meinen Augen. Auch Fatima und Filastin kamen, auf der Suche nach einem würdevollen Grab und einer ehrlichen Antwort auf die Frage, was mit ihnen passiert war. Gedanken an Mama, Baba und Yussuf und der überwältigende Wunsch nach Majid türmten sich in mir auf wie ein erdrückendes Gewicht, das dann über meinem Herzen zusammenstürzte. Ich dachte an die Mauern des Hauses, die meinen Mann im Schlaf unter sich begraben hatten. Diesem emotionalen Sturm konnte ich nur Einhalt gebieten, indem ich mich mit kaltem Wasser bespritzte. Ich brauchte Kälte, nicht nur im übertragenen Sinn, um alles in mir zu betäuben. Ansonsten wäre ich verrückt geworden, ganz sicher. Doch der Sturm war immer da, schlafend ruhte er in meinem schraubstockartig zusammengepressten Eisenkiefer. Also las ich keine Zeitungen mehr und schaute keine Fernsehnachrichten mehr, und ich fürchtete mich davor, Sara anzufassen.
Ich wollte sie nicht mit meinem Schicksal anstecken. Und ich hatte Angst, sie könnte mein Herz erwärmen und den Zorn und die Geister und den Wahnsinn in mir aus dem Kälteschlaf holen.
Ich schaltete mich selbst ab. Meine Verteidigungssysteme verletzten jeden, der sich zu nah an mich heranwagte, auch Sara, obwohl ich weiterhin heimlich an ihr roch, wenn sie schlief, um meine Lungen mit dem zu füllen, was mich am Leben hielt. Ich liebte sie unermesslich. Unendlich. Und ich fürchtete mich vor dieser Liebe so sehr wie vor meinem Zorn der Welt gegenüber.
Ariel Scharon blieb unbehelligt und konnte weiterhin seine Politik der Gewalt verfolgen. Schließlich brachte er es sogar zum höchsten Staatsamt Israels und wurde Premierminister. Die Bürger Israels wählten ihn am 6. Februar 2001, mehr als ein Jahr nach der zweiten Welle des arabischen Aufstands, und die amerikanische Presse bezeichnete ihn als einen »würdevollen alten Krieger« und einen »zähen Veteranen der vielen Kriege Israels«. Der dreiundvierzigste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, George W. Bush, nannte ihn einen »Mann des Friedens«.
Wie vergänglich doch die Erinnerung an die Schrecken von Sabra und Shatila war.
Das letzte Mal telefonierten Yussuf und ich im Januar 1983 miteinander, obwohl er versprach, mich noch einmal anzurufen, bevor »das hier« vorbei sein würde.
»Bevor was vorbei ist?«, fragte ich.
»Jassir Arafat ist ein Feigling, der sein Volk zur Schlachtbank führt, am Lügenseil der Amerikaner«, antwortete er.
»Mein Bruder, du wirkst krank. Geht es dir gut? Wo bist du?«
»Ich habe die PLO verlassen«, sagte er. Das hatte er kurz nach der Ankunft im Exil in Tunis getan, und jetzt befand er sich im Libanon.
»Im Libanon?«, keuchte ich. »Wie bist du dahin zurückgekommen? « Ich war mir sicher, die Amerikaner hatten davon keine Ahnung. Er musste sich hineingeschlichen haben. Aber wie? Mit wem arbeitete er zusammen? Mein Gott, und warum war er dort?
Er gab mir keine Antwort. Ich konnte den Frost in seiner Stimme hören. »Stell mir keine Fragen, Amal. Ich wollte nur anrufen, um sicherzugehen, dass es dir gut geht und du in Sicherheit bist«, sagte er. Jedes einzelne Wort aus seinem Mund klang hart, abgehackt, eiskalt.
»Yussuf, ich liebe dich. Bitte verlass den Libanon. Bitte, liebster Bruder. Wir können uns wieder zusammentun und ein neues Leben beginnen, vielleicht in Frankreich …«
Keine Antwort.
»Ich habe meine Tochter Sara genannt. Du solltest sie sehen. Sie ist Majid wie aus dem Gesicht geschnitten. Bist du noch da? Hallo! Yussuf! Bitte … Yussuf. Yussuf? Bitte antworte mir, ich höre dich atmen.«
Stille.
»Yussuf, bitte. Du bist nicht allein. Es gibt Tausende von Kämpfern, die alles verloren haben, wie du. Wie wir alle. Wir beide haben immer noch einander. Ich kann deinen Schmerz fühlen, Yussuf. Du weißt, dass ich das kann. Ich habe auch Gedanken voller Hass, genau wie du. Aber bitte … lieber Bruder. Bring dich nicht in Gefahr. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas zustieße. Ich brauche dich, Yussuf.«
Die Leitung war unterbrochen. Mein Bruder war unwiederbringlich fort. Er hatte den brennenden Abgrund überschritten, vor dem ich noch immer kauerte, und war auf der stillen,
einsamen Seite gelandet, auf der die Rache wohnte. Seine Seele hatte er in
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