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Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Abulhawa
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düstere Masse. Ich saß da wie versteinert, unfähig zu denken, betäubt. Noch immer wiegte ich mich hin und her, noch immer hielt ich den Telefonhörer umklammert, aus dem die unfassbar traurige Stimme meines Bruders in die Leere hineinsprach.
    Majid. Mein Geliebter.
    Die Träume, die wir beide gehegt hatten, kreisten um die neue Realität. Wir hatten uns Kinder gewünscht, wollten ferne Orte bereisen, ein Haus bauen, zusammen lachen, singen, leben, lieben … doch Majid war tot. Getötet. Asche. Ich stellte mich dem ungemütlichen Wetter und ging benommen den laubübersäten Gehweg entlang. Zu beiden Seiten meiner Straße leuchteten die Bäume in herbstlichem Orange, Grün, Gelb und Rot. Eine alte Frau, die ihren Hund ausführte, nickte mir einen Gruß zu. Ich ging an einem jungen Liebespaar auf einer Parkbank vorbei, immer weiter durch den kalten Wind, wie in Trance, bis ich nach zehn Meilen bei Elizabeths Haustür angelangt war. Muhammad, den ich aus dem Schlaf gerissen hatte, machte die Tür misstrauisch nur einen Spaltbreit auf. Dann öffnete er sie weit, damit ich mit meinem riesigen Bauch eintreten konnte.
    »Sie haben Majid getötet«, sagte ich nüchtern.
    Ich werde dich immer lieben. Was wir zusammen haben, ist für die Ewigkeit bestimmt.
    Majid. Meine unendliche Geschichte der Liebe, die auf ewig unvollendet bleiben wird.
    Liebe. Auf ewig. Für immer.

    Die Worte meines Ehemannes am Flughafen, als ich Beirut verließ.
    Sie bleiben in meinem Gedächtnis wie Asche in einer Urne. Die Herrlichkeit der Liebe, zu Staub geworden wie das Leben.
    »Lieber Gott!« Muhammad führte mich hinein. Genau in diesem Moment spürte ich, wie das Baby in mir strampelte – und ich bemerkte, dass die Sonne aufgegangen war.

33
Bedauernswert ist eine Nation
    1982
    D iese Woche im September, die mit Yussufs Anruf eingeleitet wurde, bildet den Dreh- und Angelpunkt meines Lebens. Mein Schwerezentrum. Sie ist die Stelle, an der alle Wendepunkte meines Lebens zusammenlaufen. Sie ist das ohrenbetäubende Crescendo eines zweitausend Jahre alten Geschlechts. Sie ist der Sitz eines dämonischen Gottes.
    Am 16. September umstellte Ariel Scharons Armee trotz des Waffenstillstands die Flüchtlingslager Sabra und Shatila, wo Fatima und Filastin ohne Yussufs Schutz in ihren Behausungen schliefen. Israelische Soldaten errichteten Checkpoints, verweigerten den Flüchtlingen den Ausgang aus den Lagern und ließen ihren libanesischen Verbündeten, die Phalange-Miliz, hinein. Die israelischen Soldaten verschanzten sich auf den Dächern, beobachteten die Schauplätze mit Feldstechern und schossen Leuchtraketen ab, um die Phalange zu unterstützen, die in dieser Nacht von Hütte zu Hütte zog. Zwei Tage später betraten die ersten westlichen Journalisten die Lager und legten Zeugnis ab. Robert Fisk schrieb in seinem Buch Pity the Nation:
    Sie waren überall, auf der Straße, in Gassen, in Hinterhöfen und aufgerissenen Zimmern, unter zerbrochenem Mauerwerk und auf Mülldeponien. (…) Nachdem wir hundert Leichen gesehen hatten – Frauen, junge Männer, Babys, Großeltern –, hörten wir auf zu zählen. (…) Jeder Weg, den wir durch den Schutt bahnten, brachte noch mehr Leichen zum Vorschein. Die Patienten eines palästinensischen Krankenhauses waren verschwunden, nachdem Bewaffnete die Ärzte verjagt hatten. Überall sahen wir Spuren von hastig ausgehobenen Massengräbern. (…)
    Was wir vorfanden im palästinensischen Flüchtlingslager Shatila morgens um zehn Uhr am 18. September 1982, das spottete jeder Beschreibung, obwohl es vielleicht leichter gewesen wäre, es in der nüchternen Prosa einer medizinischen Untersuchung wiederzugeben. Es hatte im Libanon schon davor Massaker gegeben, aber kaum in diesem Ausmaß und niemals überwacht von einer regulären und angeblich disziplinierten Armee. In der Panik und im Hass des Kampfes waren in diesem Land Zehntausende umgebracht worden. Aber diese Menschen, Hunderte von ihnen, waren unbewaffnet niedergeschossen worden. Dies war Massenmord, ein Zwischenfall – wie leichthin benutzten wir im Libanon das Wort »Zwischenfall« –, der auch eine Gräueltat war. Es ging darüber hinaus, was die Israelis unter anderen Bedingungen eine terroristische Gräueltat genannt hätten. Es war ein Kriegsverbrechen.
    Kannte ich diese Frauen oder diese Babys? Wie viele der Kinder waren meine Schüler gewesen? Achtundvierzig Stunden lang beobachteten die israelischen Soldaten, mit Chips und Cola griffbereit,
die

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