Während die Welt schlief
Zwillinge Jamal und Jamil an. »Brecht mir nicht das Herz. Und brecht eurem Vater nicht das Herz, während er in ihrem Gefängnis sitzt. Sie haben ihn einfach mitgenommen, ich will nicht, dass sie auch euch mitnehmen.«
Aber sie warfen trotzdem Steine auf die israelischen Panzer, weil junge Menschen eben so sind und weil junge Menschen sich nicht davon beeindrucken lassen, wie zerbrechlich ihr Leben ist. Die Zwillinge taten es nicht für die Freiheit, das wäre zu hoch gegriffen gewesen. Sie taten es aus dem Gruppendruck heraus, und weil kleine Jungen sich magisch von den Mutproben der Männer angezogen fühlen. Sie warfen Steine, vorgeblich wegen einer abstrakten Politik, die sie nicht verstanden, in Wirklichkeit aber, weil sie sich langweilten, nachdem Israel ihre Schulen geschlossen hatte.
Ihre Herzen klopften vor lauter Aufregung. Wenn sie es wieder einmal geschafft hatten, dem Tod von der Schippe zu springen, spürten sie einen richtiggehenden Rausch. Es war wie das Spiel »Cowboys gegen Indianer«, nur war es kein Spiel. Ein paar ihrer Freunde waren schon israelischen Kugeln zum Opfer gefallen. Das Risiko war enorm, darum empfanden sie auch ein so unglaubliches Hochgefühl, wenn sie wieder einmal davongekommen waren. So ging es fast zwei Jahre lang während der Intifada. Damit war es erst vorbei, als Jamal erschossen wurde – im Alter von zwölf.
Jamil sah zu, wie das Leben aus seinem Bruder wich, während die anderen Jungen schnell in Deckung rannten. Ihn überraschte, wie undramatisch der Tod war. So nüchtern. So
still und doch so mächtig. Jamal schloss bloß die Augen, ganz ausdruckslos, als würde er einfach nur einschlafen – und öffnete sie nie wieder.
Für Jamil bedeutete der Verlust seines Zwillingsbruders einen Wendepunkt. Der Tod legte sich auf die Gefühle Jamils, versteinerte sein Herz und presste blanken Hass daraus hervor. Der Zorn verstellte seinen Blick und färbte seine Gedanken schwarz. Er vertrieb das Lachen und sogar die Lust aus seinen Jugendjahren.
Huda sang abends immer noch. Das heißt, jetzt summte sie ihre Melodien, wenn sie vorm Zubettgehen nach ihren Kindern sah: Amal, Mansur und Jamil. Wenn sie sich sicher war, dass alle eingeschlafen waren, betete sie noch eine Ruka’a, eine mehr als nötig, damit Allah ihre Kinder schützen und mit Unerschütterlichkeit, Gnade und Weisheit beschenken mochte.
Während dieser Stunden dachte Huda an Amal und fragte sich, was aus ihrer verlorenen Freundin geworden sein mochte.
In den Vereinigten Staaten war jeder Tag für Amal wie der vorige – gezwungen und surreal. Sie schwebte zwischen Wahnsinn, Depression, Liebe und Zorn. Ihr Leben stand still in einem Zimmer der Angst, dessen Wände das dumpfe Echo von Dalias irrem Lachen zurückwarfen. Das Zimmer brannte mit Yussufs Zorn. Oder ist es mein eigener? Das Zimmer hallte von Yussufs Schmerzensschreien und schwankte unter ihren eigenen. Sie blickte nie außerhalb der Wände, aus denen die wütenden und schmerzgeplagten Stimmen flüsterten. Sie hasste sich selbst, leerte ihre Welt so weit wie möglich und umhüllte diese Leere mit Angst. Gleichzeitig hielt sie Ausschau nach Schmerz, Wut oder Liebe, in der Hoffnung, ihre Festung würde bezwungen und die Leere ausgefüllt. Sie vermied den Kontakt
zu ihrer Tochter, versuchte, die brennende Liebe zu ihr zu löschen, die mit Versprechen übersäte Zärtlichkeit zu ersticken. Die süße Stimme, die rief: »Mommy, liest du mir was vor, wie damals, als ich ein Baby war?« Die rührende Erstklässlerfantasie: »Mommy, es ist wahr, ich hab’s in den Nachrichten gehört. Die Zahnfee hat ihre Preise erhöht.« Amal nahm alles in sich auf, denn sie konnte ihrer wundervollen Tochter nicht widerstehen. Doch sie gab nur selten etwas zurück. Nicht, weil sie egoistisch war, sondern weil sie fürchtete, der Schmutz des Lebens könnte die Reinheit ihres Kindes beflecken. Eine pervertierte Selbstlosigkeit war also der Grund, weshalb Amal ihrer Tochter – und sich selbst – den Zauber der wunderbaren Liebe verweigerte, die tief in ihrem Inneren wohnte. Erst nachts, wenn Sara schlief, gönnte sie sich einen Hauch von Liebe. Im Schutze der Nacht sog sie Saras Duft ein, den zarten Geruch der Mutterliebe, bis die Welt wieder erträglicher schien.
Wenn Amal an Palästina dachte, dachte sie an Huda. Sie dachte an ihren Onkel Darwish, an ihre Tante Bahiya, an Haj Salim, an ihre Cousins und Cousinen und an Jack O’Malley. Oft dachte sie auch an ihren Bruder
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