Während die Welt schlief
Ismael. Und daran, dass Yussuf geschworen hatte, er sei noch am Leben – als Jude mit dem Namen David.
David dachte immer öfter an Amal, an die Einzige, die übrig geblieben war von seiner Phantomfamilie. Mosche war es gewesen, der ihm schließlich alles erzählt hatte. Das Geständnis eines sterbenden Mannes. Weil David erst so spät von seiner Herkunft erfahren hatte, stellte er von da an alles infrage, an das er bisher geglaubt hatte. Die Wahrheit, die Mosche endlich seinen Frieden schenkte, stellte Davids Leben auf den
Kopf. Er musste einsehen, dass er die Frucht arabischer Liebe war; dass er seinen ersten Atemzug an der Brust einer arabischen Frau getan hatte; dass seine erste Milch aus dieser Araberin gekommen war; und dass es Araber gewesen waren, zu denen er die ersten liebevollen Gefühle empfunden hatte. Dieses Wissen schleuderte David in einen klaffenden Graben zwischen Wahrheit und Lüge, Arabern und Israelis, Moslems und Juden.
»Du warst in ein weißes Tuch eingehüllt, an der Brust deiner Mutter, als ich dich zum ersten Mal sah«, hatte Mosche ihm erzählt. »Die arabische Frau servierte uns das Essen an diesem Tag, und unsere Blicke trafen sich kurz, bevor sie schnell wegschaute. Sie hasste mich. Sie hasste uns alle. Auf einmal waren wir die Herren über ihr Land, die Herren über das Schicksal ihrer Familie, und das wussten wir beide.«
»Wie hat sie ausgesehen?«, fragte David seinen Vater.
»Sie war schön. Ich habe das nicht wahrgenommen, weil ich die Araber verabscheute. Aber ich konnte nie den Augenblick vergessen, in dem sich unsere Blicke trafen. Ihr Gesicht hat mich mein Leben lang verfolgt, mein Sohn.«
Nachdem er Mosches Geständnis gehört hatte, fragte David sich, ob er vielleicht seine eigenen Verwandten getötet hatte, in den Kriegen, in denen er für Israel gekämpft hatte. Die Wahrheit drang immer tiefer in sein Leben ein und zwang ihn, sich mit seinem erworbenen Misstrauen, ja, seinem Hass den Arabern gegenüber auseinanderzusetzen. Die zwei Wahrheiten eines Mannes, jede so wahr wie die andere und jede das Gegenteil der anderen, kämpften um seine Seele. Das Geständnis Mosches erschütterte Davids Innerstes und stellte seine tiefsten Überzeugungen infrage.
Die Wahrheit forderte ein weiteres Opfer, als David seiner Frau alles erzählte. Er spürte, wie seine Wurzeln an ihm zogen
und den Wunsch nach Wissen entzündeten, und er veränderte sich. Seine Frau konnte mit seinem Geheimnis nicht umgehen. Dass ihr Ehemann nicht als »echter« Jude geboren worden war, passte nicht in ihr Weltbild.
Am Ende ließen sie sich scheiden. Alles wurde genau halbe-halbe geteilt: Ihr ältester Sohn Uri, ein flammender Zionist, wollte nichts mehr mit seinem Vater zu tun haben und schlug sich auf die Seite seiner Mutter, während Jakob sich dafür entschied, bei seinem Vater zu leben. Er ließ sich nicht von ideologischen Vorurteilen beeinflussen und fand Davids Geheimnis kaum anstößig, sondern eher interessant.
Jolanta gab David ihren Segen – er sollte tun, was sein Herz ihm befahl. Ob er nun Jude war oder nicht, sie liebte ihren Jungen. Gott allein wusste, wie sehr. Diese Liebe hatte sie vor langer Zeit gerettet. Jolanta hatte getan, was weder Dalia noch Amal geschafft hatten: Sie hatte die Kraft ihres Schmerzes in Liebe umgewandelt, und David war der einzige Nutznießer.
Jolanta zeigte Reue und half David, seine Geburtsfamilie aufzuspüren. Bis dahin hatte sie immer Entschuldigungen gefunden, wenn Schuldgefühle sich bemerkbar machten, aber die Wahrheit war immer wieder zurückgekommen und hatte sie gezwungen, sich damit zu befassen. Jetzt bekam sie die Chance, die Dinge in Ordnung zu bringen und sich mit der Frau zu versöhnen, die David geboren hatte. Sie hoffte, Vergebung in der Wahrheit zu finden. Denn wenn das Leben sie eines gelehrt hatte, dann die Tatsache, dass Heilung und Frieden erst beginnen können, wenn das Unrecht eingesehen worden ist. Erst dann würde Jolanta auch sicher wissen, dass David wirklich ihr Sohn war. Die Wahrheit machte sie frei und führte sie auf den Weg des Friedens, auf dem Religion und Geschichte sich vor zwei Müttern verneigten, die in der Liebe für einen einzigen Jungen verbunden waren.
»Ich möchte sie auch treffen. Lass mich dir dabei helfen, deine palästinensische Familie zu finden«, sagte sie zu ihrem Sohn. In ihren Augen standen Reue, Verzicht und Frieden.
Natürlich war Dalia inzwischen längst gestorben. Yussuf war dem Ruf der PLO
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