Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Abulhawa
Vom Netzwerk:
nie danach, und irgendwann hörte sie auf, zu mir zu kommen. Sie zog ihre eigenen Mauern um sich selbst und sperrte mich aus, und so lebten wir beide in unseren Festungen und sehnten uns nach der Liebe der anderen.
    Ich hatte alle verloren, die mein Herz je in sich aufgenommen hatte, und ich schwor mir, ich würde nicht zulassen, dass mein Schicksal auch ihr vielversprechendes Leben zerstörte.
    Als ich zusah, wie meine Tochter mit der Zeit immer schöner und klüger wurde, war ein ständiger Schmerz mein Begleiter – für mich blieb sie unerreichbar.
    Während der ersten Lebensjahre meiner Tochter war ich eine bessere Mutter. Wenn ich zurückblicke, dann bin ich mir sicher, dass unser Haus etwas damit zu tun hatte.

    Als Sara noch klein war, kaufte ich ein verfallenes viktorianisches Haus in einem nördlichen Vorort von Philadelphia. Drei Jahre lang verbrachte ich jede freie Minute damit, das Haus selbst zu renovieren.
    Beim Anstreichen der Wände und beim Abschleifen der Holzböden brauchte ich nicht zu denken. Diese Arbeiten hatten etwas Beruhigendes, vielleicht auch bloß Betäubendes an sich. Ich schliff die Ablagerungen der Vernachlässigung von Türen und Geländern, legte die Pracht des Eichenholzes frei – und die Liebe, die ein längst verstorbener Schreinermeister einst hatte darin einfließen lassen. Ich kratzte den Dreck aus den Mauerspalten, und nach und nach setzten sich vor meinen Augen die kunstvollen Details einer architektonischen Vision zusammen. Ich putzte und schrubbte und wienerte. Ich legte neue Fliesen und polierte alte Böden. Ich hängte Gardinen auf und erneuerte zerbrochene Scheiben, sorgte für Beleuchtung und richtete vier offene Kamine wieder her. Während meines Renovierungswahns lösten sich die verkrusteten Schichten des Verlusts in mir, und die Angst wurde aus meinem Herzen abgetragen. Ich hielt Sara, meine kleine Tochter, während sie an meiner Brust lag. Bei Sonnenaufgang las ich ihr vor, so wie mein Vater mir vorgelesen hatte in den lange vergangenen Tagen der Liebe.
    Jeden Morgen setzte ich mich in einen Schaukelstuhl, den ich vom Sperrmüll gerettet hatte, vor die Fenstertüren Richtung Osten und las, während die Sonne hinter einem hundertjährigen Ahorn in unserem Garten aufging und sich langsam über den orangefarbenen Himmel ausbreitete. Ich weiß nicht, ob Sara je mitbekam, dass ich sie jeden Morgen aus dem Bettchen holte, als sie noch fest schlief, denn nach dem Vorlesen und dem Morgenkaffee legte ich sie wieder unter die Decke und ging zur Arbeit. Elizabeth kümmerte sich tagsüber um sie.
Ich erinnere mich noch genau an das allerletzte Mal, als ich ihr frühmorgens vorlas.
    Sie war zweieinhalb Jahre alt. In eine Decke gehüllt saß sie auf meinem Schoß, als ich wahllos in einen Stapel Bücher griff und Khalil Gibrans Werk Der Prophet herausangelte. Ich schlug das Buch auf und landete zufällig bei der Stelle, die Majid und ich an dem Abend gelesen hatten, als wir erfahren hatten, dass wir ein Kind bekommen würden.
    Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie sind die Söhne und Töchter
der Sehnsucht des Lebens
nach sich selbst.
Sie kommen durch euch,
aber sie sind nicht von euch,
und auch wenn sie bei euch sind,
gehören sie euch nicht.
Ihr könnt ihnen eure Liebe geben,
aber nicht eure Gedanken,
weil sie ihre eigenen Gedanken haben.
Ihr könnt ihren Körpern eine Behausung geben,
aber nicht ihren Seelen,
weil ihre Seelen im Haus von morgen wohnen,
welches ihr nicht betreten könnt,
noch nicht einmal in euren Träumen.
Ihr könnt versuchen,
wie sie zu sein,
aber versucht nicht, sie euch anzugleichen,
das Leben geht nicht rückwärts,
noch verweilt es beim Gestern.
Ihr seid die Bogen,
von denen eure Kinder
als lebende Pfeile abgeschossen werden.
Der Bogenschütze sieht das Ziel

auf dem Pfad der Unendlichkeit,
und Er biegt euch mit Seiner Kraft,
damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.
Möge das Gebogenwerden
in des Schützen Hand
Freude in euch auslösen.
So wie Er den fliegenden Pfeil liebt,
so liebt Er auch den Bogen,
der fest steht.
    Als die Sonne langsam aufging und ich meiner schlafenden Tochter diese Worte vorlas, hörte ich die Stimme ihres Vaters in meiner eigenen Stimme und spürte seine Hand auf meinem Haar, wie damals, als wir zusammen Gibran gelesen hatten. Er beugte sich zu mir hinab und küsste meine Lippen – Geistererscheinungen einer erloschenen Liebesgeschichte. Majid war immer noch da, strömte unter meiner

Weitere Kostenlose Bücher