Während ich schlief
alles.
Mom und Daddy waren hochstehende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gewesen. Sie hatten mir zigmal die Gefahren einer Entführung und Geiselnahme durch Leute, die ihnen schaden wollten, vor Augen gehalten. Ich hatte mir ihre Warnungen zu Herzen genommen und es ängstlich vermieden, von den Routen abzuweichen, die sie mir vorgegeben hatten. Von der Schule nach Hause, von zu Hause zur Schule, ansonsten nie Unicorn Estates verlassen und schon gar nicht ComUnity. Wenn ich einmal woanders war, dann immer mit Mom und Daddy zusammen.
Für den Fall, dass ich entführt worden wäre, war dieses plastinierte Ungeheuer darauf programmiert, mich zu retten. Guillory starb, und Otto und Bren und Zavier wurden als feindliche Ziele eingestuft, weil seine Programmierung vorsah, die Entführer auszuschalten oder zu eliminieren.
Beängstigend, ja. Traurig ... aber kalkuliert. Denn mal angenommen, ich wäre nicht gekidnappt worden. Mal angenommen, ich wäre von zu Hause ausgerissen.
Angenommen, nur mal angenommen, ihr ideales, entzückendes kleines Kind hätte beschlossen, dass es nicht mehr bei ihnen bleiben wollte. Was sollten sie tun? Einem undisziplinierten Spross erlauben, ihre Stellung in der Weltgemeinschaft zu gefährden? Bekannt werden lassen, dass ich nicht die perfekte Plastikpuppe war, zu der sie mich zu formen versucht hatten? Mir erlauben, ihre Geheimnisse zu verraten, ihre Unzulänglichkeiten im Netz zu verbreiten, all ihre Leichen im Keller über die Hauptstraße paradieren zu lassen? Nein. Niemals.
Dann besser vorgeben, ich wäre entführt worden. Ich konnte noch so sehr aus freien Stücken gegangen sein, der Plastobot würde nicht auf mich hören – er war nicht darauf programmiert, mir zu gehorchen. Er war auf die simple Schlussfolgerung programmiert, dass jeder, der sich seinem Auftrag in den Weg stellte, ein Komplize der Entführer war. Jeder, der ihn davon abzuhalten versuchte, mich zurückzubringen – Freunde, Klassenkameraden, Polizisten – wurde als Feind kategorisiert und musste vernichtet werden. Ohne Spuren zu hinterlassen. Keine Fingerabdrücke. Keine Möglichkeit, die Morde zu meinen Eltern zurückzuverfolgen.
DATENSTROM 199 GESCANNT. AUFTRAGGEBER NICHT ERREICHBAR.
Natürlich war er nicht erreichbar. Daddy war längst tot. Das konnte ich dem Ding jedoch nicht erklären.
Ich versuchte, mir seine Programmierung als Ganzes anzusehen. An vorderster Stelle gab es eine Datei namens OBERSTE DIREKTIVE. Ich konzentrierte mich darauf und entdeckte, was ich erwartet hatte. OBERSTE DIREKTIVE: ZIELPERSON AN AUFTRAGGEBER ÜBERSTELLEN. Die Zielperson war ich, und ich sollte an Daddy überstellt werden.
Da gab es jedoch noch eine andere Direktive, verborgen unter
dieser ersten. ZWEITE DIREKTIVE, AUFTRAGGEBER NICHT ERREICHBAR: ZIELPERSON ELIMINIEREN.
Wenn für ihn feststand, dass er mich nicht zu meinen Eltern zurückbringen konnte, war er darauf programmiert, mich zu töten. Ihr Plan dämmerte mir in seiner ganzen Grausamkeit. Ich hatte gewusst, dass der Plastobot ein Auftragsmörder war. Meine eigenen Eltern sahen mich lieber tot als unabhängig von ihnen? Das war keine Liebe, das war Sklaverei.
Bereits ahnend, was ich finden würde, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf das Datum, an dem der Auftrag des Plastobots implementiert worden war. Dieses makabre Ding war überhaupt erst in Auftrag gegeben worden, nachdem ich den Preis der Jungen Meister erhalten hatte. Daddy, vermutlich mit Moms Einverständnis, hatte genau dann beschlossen, es auf mich anzusetzen, nachdem ich gezeigt hatte, dass ich nicht mehr mit Leib und Seele ihnen gehörte.
Meine Liebe zu ihnen verbrannte zu Hass, als ich die Grundbefehle der tödlichen Mission las.
Doch dann fiel mir etwas an der Datei ZIELPERSON auf. Zu meiner Verwunderung enthielt sie mehr als eine Subdatei.
Die erste umfasste meine Daten. Netzhautspeicherung, Stimmabdruck und meinen vollen Namen, ROSALINDA SAMANTHA FITZROY.
Die beiden anderen enthielten ebenfalls Netzhautmuster und Stimmabdrücke. Und zwei Namen.
STEPHANO LUCIUS FITZROY.
SERAPHINA ALEXANDRA FITZROY.
Beide Dateien waren noch aktiv. Die betreffenden Personen waren nicht eliminiert worden.
Seraphina ... der Name erinnerte mich an etwas. Sarah. Meine Freundin Sarah, damals, als ich noch ganz klein war. War sie
etwa nicht die Tochter des Hausmeisters gewesen? Seraphina Alexandra Fitzroy. Sarah war meine Schwester! Meine große Schwester. Ich war nicht allein. Ich hatte Familie.
Weitere Kostenlose Bücher