Während ich schlief
»Das stimmt nicht, das weiß ich genau.«
»Doch, das stimmt, ehrlich.« Eigentlich hätte mich das traurig machen sollen. Ich rutschte von meinem Hocker und ging zu ihm an den Tisch, zerzauste seine Haare. Solange ich wusste, dass er hier in der Nachbarwohnung war und irgendeinen Computer auseinandernahm, machte es mir nichts aus, dass ich sonst niemanden hatte.
»Ach was«, sagte Xavier und duckte sich vor meiner mütterlichen Geste weg. »Ich wette, du hast jede Menge Freunde.«
»Keine echten. Weißt du, Mom hält nichts von meinen Mitschülern, und sie mag es nicht, wenn ich allein weggehe.« Ich runzelte die Stirn. »Ich habe nie andere Freunde gehabt. Nicht seit der Tochter unseres Hausmeisters, als ich klein war.«
»Wie klein?«
»Ich glaube, ich war drei oder vier. Das war in unserer letzten Wohnung, in der Stadt.« Ich hatte seit Jahren nicht mehr an Sarah gedacht. »Sie war größer als ich und immer ganz toll zurechtgemacht und unternehmungslustig. Wir haben den ganzen Tag zusammen gespielt und uns passend zueinander angezogen.«
»Mit vier?«
»Ja. Ich glaube, das war ihre Idee. Außer ihr bist du aber wirklich der einzige Freund, den ich je hatte.«
»Hast du nicht neulich bei einer Freundin übernachtet?«
»Polly hat mich nur eingeladen, weil ihre Mom befördert werden will.«
»Wie das?«
»Ihre Eltern arbeiten für UniCorp.«
»Ach so«, sagte Xavier. »Meine auch.«
»Stimmt, aber wir sind schon ewig miteinander befreundet. Fast so lange, wie es dich gibt.«
Xavier spielte wieder an seiner Box herum. »Findest du das nicht auch manchmal komisch?«, fragte er. »Ich meine, dass du nicht genauso wächst und älter wirst wie ich. Ich weiß noch, wie du mich immer überragt hast und mir Geschichten erzählt hast, weil ich noch nicht lesen konnte. Und jetzt sind wir ungefähr gleich groß. Und fast gleich alt.«
»Ich bin vierzehn!«, sagte ich empört und richtete mich zu meiner vollen Höhe auf, die ihn immer noch um ein paar Zentimeter übertraf. »Du bist erst elf.«
Er sah mich vielsagend an. »Ich hatte vor drei Monaten Geburtstag. Ich bin zwölf.«
Ich guckte verdutzt. Ich war seit über einem Monat aus der Stasis heraus, aber mir war nicht klar gewesen, dass die letzte Phase so lange gedauert hatte. »Ich habe ihn verpasst? Ehrlich?«
»Ehrlich.«
»Das tut mir leid. Ich schenke dir etwas zum Trost. Was möchtest du haben?«
Xaviers Augen erforschten mein Gesicht. Er zögerte lange, ehe er anwortete. »Nichts.«
»Nein, im Ernst.«
»Ich möchte wirklich nichts. Ich wünschte einfach, du wärst dabei gewesen. Das wäre das schönste Geschenk für mich gewesen.«
Ich lächelte. »Du bist süß.«
»Verrat das bloß niemandem, das würde mir ewig anhängen.«
Ich umarmte ihn trotzdem. »Ich muss gehen«, sagte ich. »Mom will mit mir zum Künstlerbedarfladen und dann zum Möbeldesigner. Ich hab kein gebranntes Sienna mehr.«
»Oh.« Er sah enttäuscht aus. »Ich hatte gehofft, du würdest noch bleiben und mir helfen, das hier mit dem Türöffner zu verbinden.«
Ich tat entsetzt. »Willst du das Haus anzünden? Ich könnte ein Schaltsystem nicht mal dann durchschauen, wenn es um mein Leben ginge.«
»Die Gefahr explodierender Steckdosen macht das Projekt doch noch viel aufregender«, sagte er lachend.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich würde nur alles verderben. Außerdem könnte ich Mom dann nicht meine Meinung zu den Farbmustern sagen. Sie will die Diele renovieren lassen und braucht meinen Rat.«
»Wie du willst«, sagte Xavier und beschäftigte sich wieder mit den Schaltkreisen seines neuen Holo-Hundes.
Mich bedrückte noch etwas. Ich fragte mich, ob Xavier schon wusste, dass ich bald wieder in Stasis gehen würde. »Ah ... was ich dir noch sagen wollte, Mom und Daddy reisen nächste Woche nach Luna.«
Xaviers Kopf fuhr herum, die Augen weit aufgerissen. »Für wie lange?«
»Ich weiß es nicht.«
Er starrte mich einen Moment mit offenem Mund an, bevor er sich zusammenriss. »Aberverpass meinen nächsten Geburtstag nicht auch wieder, okay?«
Ich wuschelte ihm nochmal durch die blonden Haare. »Um nichts in der Welt, Xavy.«
Er wurde rot. »Du sollst mich nicht so nennen. Ich bin kein Kind mehr.«
»Nein, das stimmt. Aber mein bester Freund.«
Der holografische Afghane bellte. »Der beste Freund des Mädchens«, bemerkte Xavier und bellte ebenfalls.
Jetzt hatte ich einen neuen besten Freund. Er war natürlich kein Ersatz für Xavier, aber mehr,
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