Während ich schlief
springenden weißen Einhorn, trug. »Sieh mal an!«, sagte ich lachend und musste zu seinem neuen Gesicht aufblicken. »Du bist so groß!«
Er lachte auch. »Das sagst du immer.« »Stimmt auch immer.« Ich war ganz von den Socken über seine Erscheinung. Als ich über seine Wange streichelte, fühlte ich die rauen Stoppeln von der Rasur. »Was ist mit dir passiert? Du bist so ... anders.«
Er lächelte mich an, seine grünen Augen strahlten in seinem sommersprossigen Gesicht. »Gut so«, sagte er. »Ich möchte gern anders für dich sein.« Er streichelte mir über die Haare und wickelte sich eine Locke um den Finger. »Aber du bist immer noch dieselbe.«
Ich zuckte mit den Achseln. Ich wollte nicht über mich reden. »Was habe ich verpasst?« Ich klopfte mit der flachen Hand auf seine neuerdings muskulöse Brust. »Also, abgesehen vom Offensichtlichen.«
Er spielte weiter mit meinen Haaren. Kleine Schauer rieselten über meine Kopfhaut in den Nacken. Das war ... neu. Er hatte schon früher mit meinen Haaren gespielt, gerade erst gestern ... oder was für mich gestern war. Warum fühlte es sich
dann auf einmal so anders an? Okay, er war ja auch anders, aber es hatte sich noch mehr verändert.
»Nicht viel«, sagte Xavier. Seine Augen blickten tief und zärtlich. »Wie lange ist es her?«
Ich sprühte vor Freude. »Das müsstest du besser wissen als ich.«
Er lächelte wieder, zog mich an sich und drückte mich fest. »Wie habe ich dich vermisst!«
»Und ich dich erst.« Es war mir noch nie so ernst gewesen. Ich hatte alles an ihm vermisst. Er drückte mich noch fester und schwang mich in die Höhe. Ich rang nach Luft. Bisher war er dafür nie stark genug gewesen. Ich lachte, und er sah strahlend zu mir auf. Mit einem verschmitzten Grinsen wirbelte er mich im Kreis herum, bis ich quietschte. »Hör auf! Setz mich ab, du Koloss!«
Er stellte mich sachte wieder auf die Beine. »Und, was meinst du?«, fragte er. »Habe ich mich gut entwickelt?«
»Hab ich doch immer gesagt, dass du mal einen gut aussehenden Schurken abgeben würdest«, neckte ich ihn. Aber es war eigentlich kein Necken. Ich staunte vor Bewunderung und musste ihn immer wieder von Kopf bis Fuß betrachten, seine neue breite Brust, seinen prächtigen Haarschopf, die starken Arme, die mich nicht losließen. Ich schüttelte den Kopf. »Bist du’s wirklich?«, wisperte ich.
»Ich gefalle dir also?«
Ich wollte etwas Schlagfertiges erwidern, aber mir fehlten die Worte. »Äh, schon«, sagte ich. »Na ja ...« Ich gab es auf und drückte meine Anerkennung schließlich mit einem langgezogenen Pfiff aus.
»Hmm«, machte er, es klang sehr tief. Er schloss die Augen, und sein Atem ging schneller. Dann wandte er sich kurz von mir ab, als würde er mit sich selbst ringen. Sein Griff um meine
Schultern wurde fester. »Rose?«, sagte er, plötzlich ganz ernst. »Wir sind doch immer Freunde gewesen, stimmt’s?«
»Ja«, sagte ich, »ich denke schon.«
»Weißt du, daran wird sich auch nie etwas ändern. Egal, was ... sich sonst vielleicht verändert.«
So etwas hatte ich schon befürchtet. Mir war immer klar gewesen, dass ich eines Tages aus der Stasis kommen und er mir über den Kopf gewachsen sein würde. Eine Junge läuft seiner großen Schwester nun mal nicht ewig hinterher. »Ja, ich weiß«, seufzte ich. »Ich habe ja meinen Skizzenblock dabei. Geh nur und mach ... was immer du vorhast. Wir sehen uns später.«
»Ich hatte nicht vor, irgendwohin zu gehen«, murmelte er.
Jetzt verstand ich gar nichts mehr. »Was sollte das dann eben mit ...?« Ich ließ die Frage in der Luft hängen, betroffen von seinem Blick. Er war sehr, sehr eindringlich. »Xavier ...«, flüsterte ich.
»Ah«, stöhnte er und schloss wieder die Augen. »Du siehst immer noch so aus. Ich wollte eigentlich damit warten, wenigstens ein paar Tage, aber ich glaube, ich schaffe es nicht.«
»Womit warten?«
Er schwieg eine Weile mit zusammengezogenen Brauen und blickte tief in die Dunkelheit hinter seinen geschlossenen Lidern. »Rose«, sagte er endlich. »Wenn du das nicht möchtest, sag es mir einfach. Es würde nichts ändern.«
»Was denn?«
»Pst.« Er legte mir einen Finger auf den Mund und starrte mich an. Im Braungrün seiner Augen brannte eine bernsteinfarbene Flamme. »Ich denke schon seit letztem Herbst dauernd daran. Ach, eigentlich jeden unerträglichen Tag in den letzten vier Jahren. Und wenn ich jetzt nicht etwas unternehme, jetzt, wo ich es kann ...
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