Wände leben - Samhain - Ferner Donner
„Als ob es eine andere gäbe …“
Sie hoben ihre Gläser, und Sir Darren dachte, dass er heute wohl einmal den seltenen Versuch unternehmen würde, sich zu betrinken.
Dann geschah etwas, was nur er sah.
In seinem Glas spiegelte sich ein Gesicht, doch es gehörte nicht den Anwesenden. Etwas aufgedunsen war es, das eines Mannes, der zu viel aß und vor allem zu viel trank, der jede Vergnügung, die das Leben zu bieten hatte, zur Genüge ausgekostet hatte. Im ersten Moment erkannte er diesen Mann nicht, denn er hatte ihn nicht allzu oft gesehen, meistens nur seine Stimme gehört.
Viel zu hastig und zu laut stellte er das Glas ab. Er hatte noch nicht einmal daran genippt. Das Bild blieb bestehen, auf seiner Seite des Glases, aber er sah es nun viel weniger deutlich, da der Blickwinkel nicht mehr so gut war.
Gilbert!
Er hatte mehrere Kontaktpersonen im Reich der Seelen, im Jargon der Spiritisten „Geistführer“ genannt. Wenn eine Verbindung zu Jenseits zustande kam, dann meist über diese Personen. Einer davon war dieser Gilbert, ein korrupter, für alle Sinnenfreuden offener Politiker aus dem 19. Jahrhundert. Sir Darren hatte ihn nie besonders gut leiden können, doch Gilbert schien an ihm zu hängen.
Aber konnte er das wirklich sein? Seine Geistführer pflegten sich nicht von sich aus bei ihm zu melden – sie kamen, wenn er sie rief … manchmal …
„Ihnen ist es nicht nach Wein“, stellte Mr. Tiddlingson fest. „Sie machen ein Gesicht, als wäre er vergiftet.“ Unter dem bitteren Lächeln seiner Frau, die ihr Glas nun ebenfalls ruckartig abstellte, leerte Percys Chef das seine in einem Zug. „Was siehst du mich so an, Schatz?“, schmunzelte er. Alle Anwesenden musterten abwechselnd Sir Darren und Mr. Tiddlingson.
Hinter den beiden hohen Gästen befand sich eine kleine Vitrine mit altem Porzellan darin. Auch in dieser Glasscheibe zeichnete sich nun Gilberts wenig anziehende Fratze ab, die pickelige Glatze, der Kranz langer, strähniger Haare, die aufgeworfenen, immer etwas anstößig grinsenden Lippen, das unrasierte Doppelkinn. Sir Darren gab sich alle Mühe, nicht hinzusehen, um die Blicke der anderen nicht dorthin zu lenken. Allerdings war es schwierig, den Grund für dieses Phänomen zu erraten, wenn man es nicht beobachten durfte.
Ihm wurde es heiß. Er musste sich beherrschen, um nicht auf dem Stuhl herumzurutschen wie ein Kind, das auf die Toilette musste und es sich nicht zu sagen traute. Er lockerte die Fliege, die er um den Hals trug. Das Chaos, das ausbrechen würde, wenn die anderen diese Geistererscheinung bemerkten, war kaum auszudenken. Falls es sich irgendwie vermeiden ließ, wollte er es vermeiden.
Es klopfte, aber nicht an der Tür, sondern an der Tischplatte. Mehrmals.
Dorothy stieß einen Schrei aus und saß aufrecht und steif wie ein Stück Holz auf ihrem Stuhl. Percy war leichenblass geworden. Er war der einzige, der auf Sir Darrens Seite des Tisches saß. Vermutlich hatte er die Spiegelung in der Vitrine jetzt entdeckt.
Sofort begann Sir Darren mit den Fingerknöcheln einen Rhythmus auf den Tisch zu klopfen, um das Pochen aus dem Geisterreich zu übertönen. Percy machte mit und trommelte mit den Handflächen auf die Tischkante. Doch er war vollkommen unmusikalisch, konnte den Rhythmus nicht halten und machte alles zunichte.
„Ein ungewöhnlicher Abend“, ließ sich Mr. Tiddlingson vernehmen. Er musste die Stimme erheben, damit man ihn in dem Getrommel überhaupt verstand. Nach einer Weile hörte Sir Darren auf, Percy ließ ebenfalls die Hände auf die Tischplatte sinken, und sie lauschten. Nichts war mehr zu hören. Auch die Abbildungen auf der Scheibe und im Weinglas waren verschwunden.
Was hatte Gilbert ihm sagen wollen? Es war Samhain, der 31. Oktober. Die Wände, die das Reich der Lebenden von dem der Toten trennten, waren durchlässig geworden. Hatte Gilbert ihm lediglich einen Gruß gesandt? Auch Geister konnten bisweilen merkwürdige Ideen und eine eigenartige Auffassung von Humor entwickeln.
Dorothy erhob sich, noch immer etwas ungelenk von dem Schrecken, eilte in die Küche hinaus. Percy lief ihr hinterher, und gemeinsam brachten sie die Speisen herein. Sir Darren trank nun von seinem Wein. Tiddlingson funkelte ihn skeptisch an. Warum nicht gleich so, Bursche? , schien sein Blick zu sagen.
Für zwanzig Minuten kehrte hungrige Ruhe ein. Man verzehrte Salate als Vorspeise, und das Roast Beef mit Rotkohl, das anschließend aufgetragen wurde, beschäftigte
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