Waffenschwestern
Piraten schon an Bord waren? Niemand hatte ihr gesagt, wann mit dem Entermanöver zu rechnen war; niemand hatte ihr
gesagt, wann sie wieder zum Vorschein kommen sollte. Lange genug warten? Wie lange genau war das? Woher sollte sie das wissen?
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Im Raumanzug konnte sie sich in dieser Kabine nicht
hinlegen, aber sie klemmte sich so diagonal zwischen zwei Ecken, dass sie, falls sie einschlief, nicht hinfiel und dabei Lärm machte. Sie hatte den Helm offen stehen und atmete die
Kabinenluft – sinnlos, jetzt schon die Luft aus den Tanks zu verbrauchen, und der Helm würde automatisch zuklappen, falls ein Druckverlust eintrat. Sie blickte auf die Anzugsuhr und merkte sich die Zeit. Lange genug warten. Sie wünschte sich, sie hätte gewusst, wie lange.
Sie wünschte sich, sie und Stinky hätten in derselben Kabine gesessen und sich unterhalten können. Als die beiden Lehrlinge an Bord hatten sie ein natürliches Bündnis geschlossen.
Außerdem mochten beide jeweils die Eltern des anderen und versuchten schon die ganze Fahrt über, ihren Vater und seine Mutter in eine Art Verbindung zu manövrieren. Bislang hatten sich die Erwachsenen als resistent erwiesen, aber sie und Stinky hatten die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Sicherlich empfand doch jeder das gleiche Bedürfnis nach einem Partner wie sie und Stinky … so kamen die Erwachsenen schließlich auch
zusammen und zeugten Kinder.
In der leeren Kabine eingeschlossen, fiel Hazel schließlich ein, dass die einfache Lösung darin bestanden hätte, dass sie und Stinky eine Partnerschaft eingingen und die Eltern in Ruhe ließen … aber Hazel war nicht bereit, mit irgendjemandem eine Partnerschaft einzugehen. Noch nicht. Später … sie gönnte sich ein paar köstliche Augenblicke, in denen sie sich ausmalte, wie es wäre, Stinky in der gleichen Kabine zu haben, ohne die Druckanzüge und ohne die Aufsicht der Erwachsenen. Sie hatte durchaus solche Gedanken, auch wenn sie sich für die
pubertätsverzögernde Behandlung entschieden hatte; sie sah 160
vielleicht nach zehn oder elf aus, aber sie war nun mal tatsächlich sechzehn.
Sie verbannte diese Gedanken und dachte an die in anderen Kabinen eingeschlossenen Kleinen. Mit Schlafmitteln gefüttert, hatte ihr Daddy gesagt. Wie lange hielt das vor? Brandalyn war morgens immer als Erste auf den Beinen und sprang in der Gegend herum … Würde sie auch als Erste die Wirkung der Schlafmittel abschütteln? Hatten sie sie mit ihrer Schwester in dieselbe Kabine gesteckt? Sicherlich hatten sie daran gedacht.
Stassi war ruhiger und hing sehr an der großen Schwester. Die anderen beiden Kleinen, Paolo und Dris, waren Vettern.
Sie sah auf die Uhr. Nur fünfzehn Minuten waren vergangen.
Das konnte nicht lange genug sein. Die Piraten waren
womöglich noch gar nicht an Bord. Vielleicht musste Hazel stundenlang warten.
Der Raumanzug übermittelte unspezifische Schwingungen,
die sie nicht identifizieren konnte – außer dass sie sich von denen unterschieden, mit denen sie nach all diesen Monaten an Bord vertraut war. Eine Stunde, zwei, drei. Wie lange blieben Piraten an Bord eines Schiffes, um es zu plündern? An einer regulären Frachtstation konnten die automatischen
Ladevorrichtungen einen Frachtraum in sieben Stunden und zwölf Minuten ausräumen – falls alles glatt lief. Ob die Piraten wohl versuchten, einen ganzen Laderaum auszuräumen? Sämtliche Laderäume? Verfügten sie wohl über die richtige
Ausrüstung? Wie lange brauchten sie dafür?
Da war es einfacher, das ganze Schiff zu stehlen; Hazel wurde kalt, als sie daran dachte. Falls sie das taten, falls sie das ganze Schiff mitnahmen … was wurde dann aus ihr? Aus
Stinky? Aus den Kleinen?
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Sie hörte Geräusche – ganz in der Nähe. Es mussten die Piraten sein, denn niemand hatte bislang ihre Kabine aufgeschlossen.
Schlurfen, dumpfe Schläge – dann ein schriller Schrei, bei dem Hazel erstarrte. Das war bestimmt Brandy; sie alle hatten immer gescherzt, dass Brandy eine Schreistimme hatte, mit der man Stahlplatten schneiden konnte. Das Kind schrie erneut. Hazel rappelte sich auf, wobei sie sich im Raumanzug ungeschickt bewegte, und versuchte die Luke zu entriegeln. Sie musste diese Leute aufhalten – sie musste das Kind beschützen! Sie hatte das Schloss gerade aufbekommen, als ihr die Luke aus den Händen gerissen wurde und zwei große Männer sie selbst packten, einer jeweils einen Arm, und sie aus der Kabine zerrten. Sie sah, dass Brandy im
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