Wahn - Duma Key
blätterte nur um. Hier waren nebeneinander Sonnenuntergang mit Hexengras und Mädchen mit Schiff Nr. 1 abgebildet. Unter den Bildern stand folgender Text:
… hoffe ich sehr, dass du zu meiner Vernissage in der Scoto Gallery in Sarasota, Florida, am 15. April von 19 bis 22 Uhr kommen kannst. Für Air France Flight 22, der am 15. April um 8.25 Uhr in Paris startet und um 10.15 Uhr in New York ankommt, ist ein Sitz in der ersten Klasse für dich reserviert; eine Reservierung besteht auch für Delta Flight 496 mit Start vom JFK um 13.20 Uhr und Ankunft in Sarasota um 16.30 Uhr. Eine Limousine holt dich vom Flughafen ab und bringt dich ins Ritz-Carlton, wo vom 15. bis 17. April - ebenfalls auf meine Einladung - ein Zimmer für dich reserviert ist.
Unter den letzten Worten verwies ein weiterer Pfeil auf die nächste Seite. Ich sah verwirrt zu Wireman auf. Er hatte sein Pokerface aufgesetzt, aber ich konnte eine Ader an seiner rechten Schläfe pulsieren sehen. Später erklärte er mir: »Ich wusste, dass ich damit unsere Freundschaft aufs Spiel setze, aber irgendjemand musste etwas unternehmen, und mir war inzwischen klar, dass du das nicht sein würdest.«
Ich blätterte nochmals um. Wieder zwei dieser erstaunlichen Reproduktionen: links Sonnenuntergang mit Schneckenmuschel , rechts die unbezeichnete Skizze meines Briefkastens. Die Skizze war ein mit Venus-Buntstiften ausgeführtes Frühwerk, aber mir gefiel der Dreilappige Hasenfuß, der neben dem Holzpfosten wuchs - tiefschwarz und leuchtend gelb -, und die Zeichnung stammte offenbar von einem Mann, der sein Handwerk verstand. Oder es gerade verstehen lernte.
Hier war der Text kürzer.
Falls du es nicht schaffst, habe ich volles Verständnis dafür - Paris liegt schließlich nicht gleich um die Ecke! -, aber ich hoffe sehr, dass du kommen wirst.
Ich war wütend, aber andererseits auch nicht dumm. Jemand hatte die Initiative ergreifen müssen. Wireman war offenbar zu dem Schluss gelangt, dies sei sein Job.
Ilse, dachte ich. Ilse muss ihm dabei geholfen haben.
Ich erwartete, über dem Text auf der letzten Seite ein weiteres Gemälde zu sehen, aber dort war etwas anderes abgebildet. Was ich hier sah, tat mir im Herzen weh vor Überraschung und Liebe. Melinda war immer mein schwieriges Mädchen, mein Projekt gewesen, aber ich hatte sie deshalb nie weniger geliebt, und was ich empfand, zeigte sich deutlich auf diesem Schwarz-Weiß-Foto, das in der Mitte einen Knick und Eselsohren zu haben schien. Es hatte jedes Recht dazu, mitgenommen auszusehen, denn die darauf neben mir stehende Melinda konnte nicht älter als vier sein. Folglich war dieser Schnappschuss mindestens achtzehn Jahre alt. Sie trug Jeans, Cowboystiefel, eine Bluse im Westernstil und einen Strohhut. Waren wir gerade zurück von der Pleasant Hill Farm, auf der sie manchmal ein Shetlandpony ritt, das Sugar hieß? Vermutlich. Jedenfalls standen wir auf dem Gehsteig vor unserem ersten kleinen Haus in Brooklyn Park, ich in verblichenen Jeans, einem weißen T-Shirt, dessen kurze Ärmel einen Schlag hochgekrempelt waren, und mit zurückgekämmten Haaren wie ein Greaser. Ich hatte eine Dose Grain-Belt-Bier in der Hand und ein Lächeln auf dem Gesicht. Linnie hatte eine Hand in meine Jeanstasche gehakt und einen Ausdruck von Liebe - solcher Liebe - auf ihrem mir zugekehrten Gesicht, dass ich einen Kloß im Hals spürte. Ich lächelte wie jemand, der kurz davor ist, in Tränen auszubrechen. Unter dem Foto stand:
Wenn du auf dem Laufenden bleiben willst, wer sonst noch kommt, kannst du mich unter 941-555-6166, Jerome Wireman unter 941-555-8191 oder deine Mutter anrufen. Sie kommt übrigens mit dem Kontingent aus Minnesota und erwartet dich im Hotel.
Hoffe, dass du kommen kannst - liebe dich in jedem Fall, Pony Girl, Dad
Ich faltete den Brief zusammen, der auch eine Broschüre war, die zugleich eine Einladung war, und starrte sie einige Augenblicke lang schweigend an. Ich traute mich noch nicht recht, zu sprechen.
»Das ist natürlich nur ein Rohentwurf.« Wiremans Stimme klang zögerlich. Mit anderen Worten: überhaupt nicht wie seine. »Wenn er dir nicht gefällt, stampfe ich ihn ein und mache einen neuen. Macht gar nichts.«
»Das Foto hast du nicht von Ilse«, sagte ich.
»Nein, muchacho . Pam hat es in einem ihrer alten Fotoalben gefunden.«
Plötzlich begriff ich alles.
»Wie oft hast du mit ihr telefoniert, Jerome? «
Er fuhr zusammen. »Das tut weh, aber vermutlich hast du ein Recht dazu. Ein
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