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Wahn

Wahn

Titel: Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christof Kessler
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zwei Prozent aller Menschen von dieser Schwäche betroffen sein. Bei Kindern wird die Schwäche, Gesichter zu erkennen, häufig als Kontaktstörung interpretiert, ja bisweilen als Autismus eingestuft, da sie ihren Eltern oder dem Lehrer nicht ins Gesicht schauen, wenn sie mit ihnen reden. Warum auch? Sie brauchen sich die Physiognomie des Gegenübers nicht zu merken, da sie sie sowieso nicht wiedererkennen würden. Eine Ursache der angeborenen Prosopagnosie ist bis heute nicht bekannt.

LA GOMERA
    Frau Dr. Schmitt-Zähringer hatte die größte internistische Praxis in der Stadt. Bei ihren Patienten war sie sehr beliebt, vor allem wegen ihrer offenen und optimistischen Art. Die Praxis war gut organisiert, so dass trotz hoher Patientenzahlen niemand lange warten musste, und vor allem war Schmitt-Zähringer sowohl menschlich als auch fachlich überaus kompetent.
    In ihrer Freizeit hatte sie einen Tangokurs belegt, außerdem ging sie zweimal in der Woche zum Aerobic. Gemeinsam mit disziplinierter Ernährung trug dies dazu bei, dass sie trotz ihrer fünfundfünfzig Jahre schlank und fit wirkte. Seit über 30 Jahren war sie verheiratet, ihre zwei Kinder hatten längst studiert und eigene Familien gegründet. Ihr Ehemann war Jurist und von der hiesigen Staatsanwaltschaft an das Justizministerium in die Landeshauptstadt abgeordnet worden. Für sie war das im Grunde nur ein Vorteil. Denn in der Woche hatte sie somit alle Freiheiten. Sie konnte so lange, wie sie wollte, in der Praxis bleiben, um den Schreibkram zu erledigen, oder auch direkt nach der Arbeit zum Sport gehen, ohne groß kochen und sich um den Haushalt kümmern zu müssen. Dafür genoss sie die Wochenenden mit Klaus-Dieter dann umso mehr. Sie hatte ihr Leben im Griff.
    Bis zu diesem Tag. Sie war gerade dabei, eine Gastroskopie durchzuführen, bei der ein circa ein Meter langer Endoskopieschlauch über die Speiseröhre in den Magen eines Patienten geschoben wurde, als sie das Gefühl überkam, die Wände des Untersuchungszimmers würden sich auf sie zu bewegen. In der Peripherie ihres Gesichtsfeldes tauchten schwarze Schatten auf und es war ihr, als würden die Gedanken aus ihrem Kopf herausgezogen. Der Patient lag, wie immer bei einer Gastroskopie, in Seitenlage und hatte zuvor eine Beruhigungsspritze erhalten. Mit letzter Kraft konnte sie das Endoskop aus dem Mund des keuchenden und hechelnden Patienten herausziehen, murmelte etwas von einem technischen Problem, wankte aus dem Untersuchungszimmer, vorbei an den vor der Tür wartenden Patienten, in den Aufenthaltsraum der Helferinnen und warf sich auf einen der Stühle. Die ihr besorgt nacheilende Arzthelferin fand sie leichenblass, tief atmend, den Kopf nach hinten gebeugt und die Beine steif von sich gestreckt.
    »Frau Doktor, was ist mit Ihnen?«
    Sie vermutete einen Kreislaufkollaps, nahm beherzt die Beine ihrer Chefin und hob sie in die Höhe. Es dauerte mindestens fünf Minuten, bis die Ärztin ihre fest zugekniffenen Augen wieder öffnete, ruhiger atmete und irritiert um sich schaute.
    »Was ist passiert?«, fragte sie verwundert.
    »Sie hatten einen Kollaps«, stellte die Arzthelferin fest. »Ich messe gleich einmal den Blutdruck.«
    Zu ihrer Verwunderung war dieser normal, auch der Pulsschlag war kräftig und unauffällig.
    »Also alles in Ordnung, ich trinke einen Tee, und dann machen wir weiter, wir können den Patienten da nicht so liegen lassen. Ist jemand bei ihm?«
    »Ich habe den Lehrling hingeschickt, um auf ihn achtzugeben.«
    Der Rest des Tages verlief völlig normal, Routine, Untersuchungen, Beratungen.
    Als sie am Abend zu Hause war, setzte sie sich im Wohnzimmer auf einen Sessel und schaute regungslos das Bücherregal gegenüber an. Es wurde dunkel im Raum, selbst für die geringste Bewegung fehlte ihr die Kraft. »Was war das heute für ein Zustand gewesen?«, fragte sie sich. Sie erlebte das eingeengte Gesichtsfeld und die näherkommenden Wände noch einmal nach und bekam eine diffuse Angst. Sie war Internistin und wusste Bescheid über Kreislaufstörungen und kreislaufbedingte Ohnmachtsanfälle, Synkopen genannt.
    »Das war keine Synkope«, murmelte sie, »dagegen spricht, dass der Blutdruck schon kurze Zeit später ganz normal gewesen ist.«
    Sie spann den Gedanken weiter: Wenn es keine Synkope war, was war es dann? Doch nicht etwa ein epileptischer Anfall? Ja, das musste es gewesen sein, sie war Epileptikerin. Sie hatte heute einen epileptischen Anfall gehabt, fürchterlich, als

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