Wahnsinn Amerika: Innenansichten einer Weltmacht (German Edition)
Amerikanern insgesamt ernüchtert sein, weil auch sie den Aufbruch der Wahlnacht nun nicht umsetzten.
Vielleicht müsse man ja schon als Wandel anerkennen, dass der erste schwarze Präsident der USA noch lebt, sagen mir Zyniker. Als in Arizona die demokratische Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords nach einer Bürgerfragestunde von einem Amokläufer durch einen Kopfschuss niedergestreckt wird, schreckt der Gedanke viele, mitsamt dem Schock über das Attentat, das sechs Umstehende das Leben kostet, darunter ein neunjähriges Mädchen. Gifford selbst überlebt wie durch ein Wunder.
»Unsere Strecke ist noch lang«
Erst im November 2009, Monate später als geplant, stimmt das US-Repräsentantenhaus als erste Kammer über Obamas Gesundheitsentwurf ab. »Die Zeit ist reif, die Arbeit abzuschließen«, ruft er seine Partei zu Geschlossenheit auf. »In Amerika sterben jährlich 18 000 Menschen, die sich nötige Behandlungen nicht leisten können. Das Gesetz erleichtert ihnen den Zugang zu Krankenschutz und es senkt die Kosten.«
Die Vorlage wird zwar angenommen und nimmt damit die erste Hürde. Doch die Republikaner und auch etliche Demokraten stimmen dagegen. Seinen Anspruch, als Präsident der Mitte zu regieren, muss Obama nun aufgeben. Ihm bleibt nur noch, die knappe Zeit bis zu den ersten Zwischenwahlen zu nutzen, um auf den Weg zu bringen, was ihm wichtig ist. Dass seine Mehrheiten bald schrumpfen werden, wenn nicht ganz wegbrechen, gilt als sicher. Wochen später bringt Senator Harry Reid die Vorlage auch in der zweiten Kammer ein. »Wir können jetzt die Ziellinie sehen«, sagt er. »Aber wir haben sie noch längst nicht überquert. Die Strecke vor uns ist noch lang.«
Tatsächlich kostet schon Kennedys Tod die Demokraten ihre Supermehrheit. Denn die sicher geglaubte Nachwahl im liberalen Massachusetts verspielen sie, noch bevor der Senat über die Gesundheitsreform abstimmt. Mit seiner ebenso treffenden wie geschickten Kampfparole, der Sitz gehöre weder den Kennedys noch den Demokraten, sondern dem Volk, dreht der republikanische Newcomer Scott Brown die Stimmung dort zu seinen Gunsten. Noch geschickter ist freilich seine Taktik, sich im Wahlkampf eher als parteiferner Unabhängiger zu gebärden denn als Republikaner. Die Tea Party hofiert ihn zwar – doch er ist klug genug, sein Schicksal nicht ganz in ihre Hände zu legen. Er weiß, dass er in Massachusetts so auf Dauer seinen Sitz wieder verlieren würde.
Dennoch ist die 60-Stimmen-Mehrheit der Demokraten im Senat dahin, die sie bisher vor einer Sperrminorität der Opposition bewahrt hat. Noch bevor Browns Wahl bestätigt ist, trifft sich Obama mit Reid und der Chefin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, zum Krisengespräch. Sollen sie die Gesundheitsreform doch aufgeben? Sie entscheiden sich, sie weiter voranzutreiben. Zu nah sei man nun am Erfolg.
Selten lässt Obama so sehr erkennen, dass er zwischen zwei Rollen hin und her springt: Mal kämpft er als wortgewaltiger Redner für seinen Entwurf. Mal gibt er sich moderat, als wolle er nur staatsmännisch zwischen den streitenden Parlamentsflügeln vermitteln. Doch keine Rolle vermag er durchzuhalten. Mal wächst die Kritik an ihm, er sei zu forsch und gehe zu wenig auf die Gegenseite zu. Mal wirft ihm die Presse vor, er sei zu abgehoben, volksfern und professoral. Zudem macht er es so den Wählern schwer, sich auf einen Regierungsstil einzustellen. Je öfter er Kritikern nachgibt, desto mehr verwirrt er damit auch seine Anhänger.
Auch sein live im Fernsehen übertragener Versuch scheitert, zwei Parteidelegationen in einer stundenlangen Arbeitstagung einander näher zu bringen. Zwar brilliert er als Moderator und gibt sich bemüht defensiv, doch die Fronten bleiben unverändert. Wieder spalten nun millionenteure, hoch emotionalisierte TV-Kampagnen Amerika. Die Rechten warnen vor einer Ärztekrise. Die Linken prangern die tödliche Willkür des bisherigen Systems an.
Dann, im März 2010, wird nicht mehr Kennedy bespuckt, sondern Senator Barney Frank. Auf den Fluren des Kongresses erwartet die Reformbefürworter vor dem Schlussvotum ein Spießrutenlauf zwischen pöbelnden Protestierern – und kurz darauf im Sitzungssaal ein zornig wetternder John Boehner als republikanischer Minderheitenführer. Als wolle er beweisen, dass auch er ein Rüpel sein kann, schleudert er ungewohnt theatralisch der Regierungsfraktion entgegen: »Haben Sie das Gesetz überhaupt gelesen? Zur Hölle, nein, das haben
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