Wahnsinn Amerika: Innenansichten einer Weltmacht (German Edition)
energisch für den Endkampf gegen die Evolutionslehre. Als ich mich als Europäer zu erkennen gebe, schauen sie mich mitleidig an.
Als erster Politiker tritt Mike Huckabee auf, vor der letzten Wahl einer der Konkurrenten John McCains, und macht sich über Obamas Gesundheitsreform lustig. Natürlich müssten Versicherer Kranke ablehnen dürfen, lacht er. Er könne ja auch nicht mit einem kaputten Auto beim Kfz-Versicherer ankommen, schnell einen Vertrag abschließen, um dann mit einem Neuwagen davonzubrausen. Folglich würde er sich auch an Obamas neue Krankenversicherung erst wenden, wenn er sich das Bein gebrochen habe, und bis dahin hübsch den Beitrag sparen. Das Publikum grölt. Kein Wort davon, dass die Reform gerade deshalb eine Versicherungspflicht für alle vorsieht – eben wie eine Autohaftpflicht auch.
Das Lied vom Tod
Tea-Party-Aktivisten, die wir auf einer Tour durch mehrere Bundesstaaten begleiten, ziehen noch ganz andere Register. Und machen damit deutlich, dass Obamas Wahl mitnichten der Ausdruck eines geeinten Landes ist, sondern für sie eher der Anlass, es noch tiefer zu spalten. Auf dem Luxusbus, in dem sie quer durch Amerika rollen, steht »Amerikaner für Wohlstand«, eine Organisation, hinter der – entgegen dem Klischee der unabhängigen Graswurzelbewegung – eine der reichsten Industriellenfamilien der USA steht: die milliardenschweren Gebrüder Koch, Besitzer eines Mischkonzern-Imperiums und bekennende Gegner jedweder Kapitalismusregulierung.
Ihr Hauptredner stellt sich als Dr. Lawrence Hunter vor. Wenn der Bus stoppt, seufzt er beim Aussteigen schon mal vor sich hin, »die Show« müsse nun wieder weitergehen. Selten kommen zu den Ortsterminen mehr als 50 Menschen, meist sind es zwischen 10 und 20. »Hauptsache, es ist jemand von der Zeitung und von der Radiostation da«, sagt er mir im Bus. »Dann findet die Botschaft schon allein den Weg.«
Die Botschaft, die er meint, ist einfach. Doktor Hunter hält eine unübersichtliche Grafik voller Textkästchen und Pfeile hoch. »Das ist Obamas Gesundheitsreform«, erklärt er den Zuhörern. »Wenn sie kommt, werdet ihr früher sterben.« Das sei Sozialismus wie in Europa oder Kommunismus wie in Russland. Wie überall eben, wo man als Kranker vergeblich auf Operationstermine warte. Amerika dagegen verfüge, wie alle wüssten, über das beste Gesundheits- und Wirtschaftssystem, das die Welt kenne.
Die bittere Wirklichkeit, der wir im Land immer wieder begegnen, sieht anders aus. Für den Weltspiegel berichtet unser Studio über Kinderarbeit auf Virginias Tabakfeldern, die Krankheiten wie Staublungen verursacht, und über einen 76-jährigen Arzt in Texas, der nicht in Rente gehen kann, weil er in der klammen Bezirksklinik die letzte Hoffnung für viele Kranke ist, deren Einkünfte nie für eine Krankenversicherung reichten – darunter Krebspatienten, denen er nur noch beim Sterben zusieht, weil Fachärzte sie abweisen. Der Grund ist ein willkürlich festgesetzter Armutsgrenzwert von 191 Dollar. Wer monatlich mehr zur Verfügung hat als diese, ist für den Bundesstaat noch immer nicht arm genug für die staatliche Fürsorge. Eine Klinik im notleidenden Südosten Washingtons ging gar dazu über, Bedürftige nicht mehr von Ärzten behandeln zu lassen, sondern von Medizinstudenten.
Trotzdem werden Obamas Demokraten in diesem Sommer von tumultartigen Wahlkreistreffen überrascht, in denen Bürger ihre Abgeordneten wegen der vorgesehenen Reform beschimpfen. Die Proteste, die die ganzen Parlamentsferien hindurch die Nachrichten beherrschen, verzögern Obamas Zeitplan erheblich. Bald tragen aufgebrachte Demonstranten Plakate durch Washington, die den Präsidenten neben Hitler, Lenin oder Stalin zeigen. Nach Banken und Autokonzernen, heißt es, wolle der Sozialist Obama nun auch die Krankenversicherung verstaatlichen. Und weil das Reformgesetz auf einer von über 2000 Seiten die Möglichkeit von Patientenverfügungen erwähnt, um selbst zu bestimmen, wie man im Alter mit dem Sterben umgehen möchte, sprechen die Kritiker von einem »Euthanasie-Plan«, der schlimmer sei als das Original des Dritten Reiches. Obama wolle, verbreiten sie, »bei Großmutter den Stecker ziehen«.
Auch die Aktivisten in ihrem Wohlstands-Bus, die täglich ihren Medienerfolg auswerten, finden das in Ordnung. »Wenn Sie Massen ansprechen wollen, ist es wichtig, komplexe Dinge zu vereinfachen«, belehrt mich Hunter, als wir wieder auf den Highway biegen. »Deshalb
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