Wahnsinn Amerika: Innenansichten einer Weltmacht (German Edition)
die hier allen gerecht wird? Und wie konnten umgekehrt so viele Wähler glauben, Obama würde sie fortan nicht wie ein streitbarer Präsident anführen, sondern wie ein Heiland? Als wir die Reise planten, suchten wir nach Amerikanern jenseits unserer üblichen Berichterstattung, als gäbe es ein zweites, weniger aufgeregtes Land. Jetzt frage ich mich, ob das, was wir fanden, nicht das eigentliche Amerika ist.
»Absolut, vergessen Sie die Wutbürger, in Wahrheit sind wir die unpolitischste Demokratie der Welt«, bestätigt mir Altanalyst Stephen Hess. »Wir wählen alle vier Jahre einen Präsidenten, und danach kümmern wir uns wieder um unsere eigenen Dinge, sei es die Kirche, die Familie, der Job oder das, was wir besitzen«, überrascht er mich. »Fragen Sie draußen im Lande, was Amerikaner beschäftigt, dann haben die nicht genügend Finger, um auch nur eine einzige politische Frage mit aufzuzählen. Sie gehen anders mit Politik um. Sie wählen einen Kandidaten, vertrauen darauf, dass er tut, was er verspricht, und wenden sich dann wieder ihrer kleinen Umgebung zu.«
Dazu komme eine »ziemlich ulkige Tradition«, wie er es nennt. »Hier kann jeder morgens in den Spiegel schauen und sagen: ›Ich finde, ich sollte der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika sein.‹ Dann sammelt er Geld und Freunde ein, umgibt sich mit Beratern und startet seine Kampagne. Es folgen Fernsehauftritte, die ihm kostenlos Werbung für sich selbst ermöglichen. Wenn es gut läuft, haben wir einen Wettstreit um Ideen. Wenn nicht, ist es eher eine Realityshow mit drei, vier oder fünf Millionen Zuschauern, die sich davon eine Weile unterhalten lassen.«
10 Wohin führt das Wahljahr?
Triumph, Tragik oder beides
Die Erste, die verglüht, ist Michele Bachmann. Bei den republikanischen Vorwahlen in Iowa landet sie nur auf Rang sechs, mit gerade mal fünf Prozent der Stimmen. Und das in ihrem Heimatstaat. »Das Volk hat mit sehr klarer Stimme gesprochen«, sagt sie danach. »Deshalb habe ich mich entschlossen, beiseitezutreten.«
So endet der Höhenflug der ersten Tea-Party-Thronfolgerin Sarah Palins. Pizza-Mogul Herman Cain hat das rechte Dschungelcamp schon nach seinem Ehebruch-Skandal verlassen. Mit dem Favoritentitel der Parteirechten schmücken sich von da an zuerst der Texaner Rick Perry, dann der Haudegen Newt Gingrich und zuletzt der ultrareligiöse Exsenator Rick Santorum, der Sex allein zu Fortpflanzungszwecken statthaft findet, Abtreibung auch nach Vergewaltigungen ablehnt, den Klimawandel »Blödsinn« nennt und den Afghanistan-Krieg ohne Zeitlimit fortsetzen will.
Zum Auf- und Abstieg der Obama-Herausforderer trägt letztlich sogar ihr Haussender Fox News bei, dessen eigene Unzufriedenheit in Interviews durchscheint. Und auch in der Partei selbst herrscht zunehmend die Sorge, dass keiner ihrer Bewerber dem Präsidenten auch nur annähernd das Wasser reichen könne.
»Obama hat die beste Wahlkampforganisation, die es je gegeben hat. Schon deshalb dürfte er gewinnen«, sagt uns deren Stratege Ford O’Connell, der zuletzt in John McCains Wahlkampfstab mitwirkte, ein jugendlicher, leicht schlacksiger Typ mit Bürstenhaarschnitt und heiserer Stimme. »Es wird am Ende auf sieben oder acht Bundesstaaten ankommen, egal wer gegen Obama antritt. Die anderen 42 stehen absehbar entweder als demokratisch oder als republikanisch fest. Viele bei uns wollen das nicht wahrhaben. Aber wo immer es knapp wird, ist entscheidend, wer besser organisiert ist. Und das ist Obama.«
Dennoch ist der Mann nicht unzufrieden. Es gehe im Wahljahr nicht nur um die Macht im Weißen Haus. Was das Repräsentantenhaus angehe, rechne er zwar mit Sitzverlusten der Republikaner, erklärt er mir, aber erneut mit einer rechten Mehrheit. Und im Senat sehe er die große Chance, vier neue Mandate zu gewinnen. »Das würde die Macht des Präsidenten weiter schmälern«, sagt er. Behielte er recht, könnte die politische Lähmung Washingtons nicht nur bis zum Wahltag, sondern sogar noch weitere vier Jahre anhalten. Statt eines Triumphs von Amtsinhaber oder Opposition also nur die Fortsetzung des Dauerkrampfs? Für Amerikas Politik wäre das eine Tragödie, zumal der Kongress schon jetzt so unbeliebt ist wie noch nie.
»Sicher wäre das kein Wunschergebnis, aber ich habe auch noch keine Vorwahlzeit erlebt, die verrückter war als diese«, antwortet O’Connell in seinem spärlich eingerichteten Büro. »Die Republikaner suchen jemanden, der gegen
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