Wahnsinn Amerika: Innenansichten einer Weltmacht (German Edition)
Obama nun offenbar versuche, »am Kongress vorbei« zu regieren.
»Das war genau die Reaktion, die sich das Weiße Haus erhofft hat«, mutmaßt daraufhin die New York Times . Denn kaum etwas im Land werde inzwischen mehr beklagt, als die Handlungsfähigkeit des Parlaments. Auch die Online-Zeitung Huffington Post unterscheidet nun zwei Rollen Obamas, die er zunehmend nutze. »Obama, der Problemlöser«, schreibt sie, »wandelt sich zu Obama, dem Krieger. Genau das könnte ihn retten.«
Als der Januar anbricht, setzt sich zudem – gut für Obama, schlecht für seine Gegner – der positive Trend der Wirtschaftsdaten fort: Die Arbeitslosenquote ist weiter gesunken, auf nunmehr 8,5 Prozent, den niedrigsten Stand seit fast drei Jahren. Der private Sektor, einschließlich der Autoindustrie, meldet 220 000 neue Stellen, deutlich mehr als von Fachleuten erwartet. Eine Entwicklung, die sich in den Folgemonaten zunächst fortsetzt, wenn auch weniger schwungvoll als von Obama erhofft.
Dem Favoriten unter den Gegenkandidaten, Mitt Romney, der als Geschäftsmann vor allem auf seine Wirtschaftskompetenz pocht, bricht damit sein Thema weg. Zuletzt hatte er den Präsidenten als »Jobkiller« verspottet. Nun korrigiert er sich auf der Vorwahlbühne im Neuenglandstaat New Hampshire. »So wichtig Arbeitsplätze und die Wirtschaftsentwicklung auch sind, wir müssen begreifen, dass es auch um Amerikas Seele geht«, windet er sich, »also um etwas irgendwie Höheres.«
Doch schon im Juni schockt ein Rückschlag das Obama-Lager: Statt endlich wieder unter acht Prozent zu fallen, steigt die Arbeitslosenrate plötzlich wieder an.
»Europa oder Demokratie«
Die blonde Frau, die ihre Hände zur Decke streckt und mit geschlossenen Augen leise betet, dürfte Ende 20 sein. Vorne im Saal schickt ein Gitarrist sanfte Klangfolgen in Umlauf, in denen die Gläubigen sich wiegen. Kurz öffnet sich der Blick der Blonden, dann faltet sie die schlanken, üppig beringten Hände zum nächsten Gebet. Andere knien derweil am Boden, mit scheinbar schmerzverzerrtem Gesicht, oder umarmen sich zitternd in Kleingruppen, als müssten sie Krämpfen standhalten. Wir sind im Städtchen Greenville, einer Hochburg der evangelikalen Kirche, im Bundesstaat South Carolina.
Nur ein paar Tage noch, bis hier der erste Südstaat mit seiner Vorwahl an der Reihe ist und die Basis der Republikanischen Partei auch hier denjenigen kürt, der Obama heldenhaft besiegen soll. Die Szenen, die sich in den Köpfen der Betenden abspielen, müssen dem Kampf eines Kreuzritters gegen einen Drachen ähneln. »Ich kann sehen, wie das Böse uns mehr und mehr umgibt«, schildert uns die junge Blonde später, »es ist direkt vor uns, viele verbergen es nicht einmal mehr.«
Ein Ehepaar im Rentenalter, das ihr zustimmt, wird konkreter. »Es scheint, als würde Amerika sozialistisch, nachdem wir all die Jahre so viele Freiheiten genießen konnten«, klagt die Frau. Dann meldet sich ihr rundlicher Mann zu Wort. »20 Jahre, nachdem Ronald Reagan die Sowjets in die Knie gezwungen hat«, schimpft er, »werden wir von Leuten regiert, die hier den Kommunismus einführen wollen.«
Einen weiteren Kampfbegriff hat Kandidat Mitt Romney eingeführt, der die erste Abstimmung in Iowa fast gleichauf mit seinem Parteifreund Rick Santorum abschloss und die zweite Vorwahl in New Hampshire klar gewann. »Europa funktioniert nicht einmal in Europa«, polemisierte er dort gegen Soziale Marktwirtschaft und gegen »Wohlfahrtsstaaten«. Unter Konservativen gilt »europäisch« längst als Synonym für »sozialistisch«. Ganz nebenbei nutzen sie so Europas Währungskrise, um neue Angst vor Obamas Reformagenda zu schüren.
Die meisten Amerikaner hätten wenig Ahnung von Europa, erklärt uns Parteiinsider Ford O’Connell. Die Wirklichkeit spiele ohnehin keine Rolle, es gehe allein um Wahrnehmung. Und unter Konservativen gelte Europa nun mal als sozialistischer als der eigene Kapitalismus. Zwar belustigt es einige Kommentatoren, dass Amerikas Rechte in ihrem beharrlichen Bemühen, Obama als »unamerikanisch« zu brandmarken, mit immer neuen Varianten aufwarte. Nachdem sie ihm zuerst seine kenianischen Vorfahren vorgehalten hätten, dann seine Schulzeit in Indonesien, kämen die Kritiker des Präsidenten der Wahrheit immerhin schrittweise näher.
Dennoch ist erstaunlich, wie bereitwillig konservative Wähler die Anti-Europa-Parole übernehmen. Selten wurde mir von erwachsenen Menschen voller Überzeugung
Weitere Kostenlose Bücher