Wahnsinn, der das Herz zerfrisst
zu entziffern: Augusta
Byron
20ter Sept. 1814
Am nächsten Tag reisten sie ab, Byron nach London, Augusta und die Kinder nach Six Mile Bottom.
Annabella Milbanke gehörte zu den Menschen, die zunächst niemandem und später allen ein Rätsel waren. Anders als Byron besaß sie einen streng logisch denkenden, äußerst präzisen Verstand, dem es jedoch völlig an Phantasie und Einfühlsamkeit mangelte. Sie war sehr stolz darauf, eine unabhängige, moderne junge Frau zu sein. Dabei übersah sie, daß ihre Eltern für sie, das verwöhnte Einzelkind, bis jetzt alle praktischen Hindernisse des Lebens aus dem Weg geräumt hatten. Von Haushaltsführung, von der sie keine Ahnung hatte, bis hin zu dem Schreiben von lästigen Absagebriefen an ehemalige Verehrer erledigte ihre Mutter alles für sie. Ralph und Judith Milbanke hingen mit grenzenloser Anbetung an ihrer Tochter und hielten sie in jeder Beziehung für vollkommen.
Wenn Annabella sich einmal eine Meinung gebildet hatte, dann hielt sie daran fest und starb lieber tausend Tode, als diese Meinung zu ändern. Sie war sehr belesen - die Bildung, die sie in ihren Briefen durchblicken ließ, konnte man nicht als Heuchelei abtun, sie fand wirklich Freude an systematischer Gelehrsamkeit. Und vor allem tat sie nie, unter keinen Umständen, etwas Unpassendes. Annabella Milbanke wußte, was sich gehörte.
Als Byron 1812 über Nacht berühmt wurde, las sie selbstverständlich auch »Childe Harald« und war wider Willen fasziniert. Sie beobachtete etwas verächtlich den Kult, der sich um Byron entwickelte, und fand das Verhalten ihrer Cousine Caroline Lamb, gelinde gesagt, abstoßend. Nichtsdestoweniger bat sie Caroline, Lord Byron ein paar von ihren eigenen (Annabellas) Gedichten zu zeigen. Gelegentlich, wenn ihr die Mathematik zuviel wurde, versuchte sie sich an Versen. Byron mußte sehr positiv geurteilt haben, denn die wütende Caroline wollte ihr nur einen Teil seines Briefes zeigen, der an sich schon lobend genug war.
Für Annabella schien Carolines Benehmen eine erneute Bestätigung ihrer These, daß Leidenschaft keine Basis für eine Freundschaft und noch weniger für eine gute Ehe sei. Als ihr Lady Melbourne daher den überraschenden Heiratsantrag Lord Byrons übermittelte, reagierte sie vollkommen in Übereinstimmung mit ihren Prinzipien: sie lehnte höflich und distanziert ab.
In ihren Augen war ein Mann, der sich auf solche Art und Weise mit Caroline Lamb lächerlich gemacht hatte, einfach unpassend.
Aber dann, nach erfolgter Ablehnung, ertappte sie sich dabei, wie sie immer öfter an ihn dachte. Hing dies nur damit zusammen, daß sie sich für seine Werke begeisterte? Sie sah ihn auf der einen oder anderen Gesellschaft, wagte aber nicht, sich ihm zu nähern. Schließlich kam sie zu der Überzeugung, sie habe die Aufgabe, seine Seele zu retten und schob ihre Traume, in denen er auftauchte, auf dieses edle Bestreben. Als er auf ihre Bitte um einen Briefverkehr mit ihr einging, wartete sie ungeduldig auf sein erstes Schreiben.
Nicht, daß er ihr irgend etwas Neues über sich selbst erzählen konnte - sie hatte sich ihre Meinung über ihn längst gebildet. Er war Childe Harold, düster, zynisch, ein gefallener Engel. Wenn sie sein bisweilen frivoler Ton irritierte, dann hielt sie dies für eine Maske, hinter der er seine tief verborgene Melancholie versteckte. Sie blieb lange Zeit in Seaham auf dem Landsitz ihrer Eltern, fragte sich, warum er zwar einigermaßen regelmäßig, aber selten schrieb, und fühlte sich merkwürdig verärgert über die Geschichten um ihn und Lady Oxford.
Im Sommer 1813 dann, auf einem Ball der Lady Glenverbie, sah sie Byron erstmals zusammen mit seiner Schwester. Die völlige Harmonie, die die beiden umgab, fiel ihr sofort ins Auge. Sie hörte Byron lachen und mußte sich abwenden, ohne zu wissen, warum.
Einige Zeit später sah sie, fast gegen ihren Willen, wieder in seine Richtung. Jetzt unterhielt sich Byron mit einem Freund.
Er saß zurückgelehnt da und wirkte etwas gelangweilt. Sie studierte sein Gesicht und glaubte auf einmal, sich jedes einzelne Detail einprägen zu müssen. In diesem Moment kreuzten sich ihre Augen mit denen seiner Schwester. Annabella fühlte einen Stich, ihre Knie wurden weich, und mit einem Mal erkannte sie, was sie so lange in den Schleier der edlen Gefühle gehüllt hatte: sie hatte sich in Lord Byron verliebt.
Zuerst versuchte sie, es vor sich zu verleugnen - diese allgemeine Torheit, die
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