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Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Titel: Wahnsinn, der das Herz zerfrisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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letzte Brief sein, den Sie von mir erhalten. Wenn Sie so viel allein sind und nicht immer beschäftigt, warum habe ich dann nicht mehr Ihrer Gedanken?«
     
    Am ersten November kam er, die erste Begegnung seit mehr als einem Jahr, und beide wußten eigentlich nicht, wie er sich angesichts der veränderten Situation verhalten sollte. Annabella streckte unsicher ihre Hand aus, und Byron küßte sie. Danach standen sie sich schweigend gegenüber, bis Byron schließlich sagte: »Es ist lange her, daß wir uns getroffen haben.«
    Annabella entfloh der Situation unter dem Vorwand, sie müsse ihm ihre Eltern vorstellen, ohne daran zu denken, daß diese ihn bereits empfangen hatten. In Gegenwart ihrer Eltern fühlte sie sich sicherer, eine allgemein gehaltene Unterhaltung kam in Gang. Byron fand sie in etwa, wie er es erwartet hatte: schweigsam, zurückhaltend, intellektuell. Daß sie sich offensichtlich davor fürchtete, allein mit ihm zu sein, rührte ihn. Sie erschien ihm zum erstenmal als das junge Mädchen, das sie tatsächlich war.
    Er versuchte alles, um ihr über ihre Nervosität hinwegzuhelfen.
    Annabellas Mutter machte er ein Kompliment nach dem anderen und ließ sich von Sir Ralph seine Erfahrungen in der Bewirtschaftung von Landgütern erzählen. Nach und nach lag in Annabellas Blick mehr Feuer, als er von der kühlen Miss Milbanke je erwartet hätte. Byron verwickelte sie in ein Gespräch über die Schauspieltechnik von Kean, und obwohl sie sich immer noch zurückhielt, wirkte sie mit den leicht geröteten Wangen, den Körper angespannt etwas nach vorne geneigt, anziehender, als sie ihm früher erschienen war.
    Sie war klein und zierlich, was Byron nicht sehr schätzte, denn es erinnerte ihn an seine Mutter und Lady Caroline, aber wirklich hübsch machte Annabella ihre niedrige Stirn, die weit auseinanderstehenden Augen und der feingezeichnete Mund. Ihr eher rundlicher Kopf, mit einem ziemlich kleinen Kinn ruhte auf einem wahrhaft graziösen, langen Hals.
    Annabella fand, er sei ein wenig gealtert (sie entdeckte schon graue Haare), und schob dies auf seinen unpassenden Lebenswandel. Aber das würde sich ja nun ändern! Als ihre Mutter zu bedenken gab, daß es Zeit sei, sich zurückzuziehen, wußte Annabella nicht, ob die Erleichterung oder das Widerstreben in ihr größer war.
    In den folgenden zwei Wochen spielten sie, wie Byron sich ausdrückte, alle Kapitel eines Romans von Jane Austen durch.
    Er konnte sich nicht entscheiden, was er von ihr halten sollte, und langweilte sich mit ihren Eltern fast zu Tode. Daneben entdeckte er zwischen all der Verlegenheit und umständlichen Konventionalität, die sie beide wahrten, eine beruhigende Tatsache: Annabella nahm alles, was er sagte, wortwörtlich.
    Einmal (sie hatten sich inzwischen auf »Liebster« und »Annabella« geeinigt) fragte er sie neckend: »Weißt du, daß du mir mit deiner Ablehnung damals fast das Herz gebrochen hast?«
    Annabella sah ihn an und erwiderte: »Ja. Und deswegen habe ich es zu meiner Pflicht gemacht, dein Leben zu retten.« Er faßte es nicht. Sein Sinn für Boshaftigkeit erwachte, und er wollte herausfinden, was sie ihm noch alles abnehmen würde.
    »Ach, hättest du das doch schon vor zwei Jahren getan! Seitdem bin ich tiefer in die Schluchten der Hölle hinabgestiegen als je irgendein Mensch - und dir ist ja bekannt, daß ich nicht an die Erlösung glaube!« Annabella wagte es tatsächlich, ihn unaufgefordert mit der Hand zu berühren. »O Byron, wir alle haben eine Hoffnung!« Das war zuviel. Er erhob sich von der Chaiselongue, auf der er mit ihr saß, und lehnte sich mit abgewendetem Kopf gegen den Kamin. Seine Schultern zuckten. Und Miss Milbanke, die natürlich nie auf die Idee gekommen wäre, daß irgend jemand über sie lachen könnte, kommentierte mit ihrer ernsten Stimme: »Solange es Tränen gibt, solange kann ein Herz gerettet werden.«
    Byrons Langmut war auf schwere Prüfungen gestellt. Sah Annabella in ihm nur ein Objekt für Predigten, oder liebte sie ihn?
    Er machte einen direkten Annäherungsversuch. Annabella sprang entsetzt auf und starrte ihn an, als habe er sich in irgendein widerliches Insekt verwandelt. »Wie… wie kannst du nur so etwas tun!« Er antwortete ein wenig scharf, und ein häßlicher Streit entstand. Am folgenden Tag reiste er ab, aber bis er in Bouroughbridge, in der ersten Herberge, die er fand, für die Nacht unterkam, hatte ihn das schlechte Gewissen gepackt.
    Man behandelte seine Braut nicht wie

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